zum Gedenken

Dieter Noll

Die Abenteuer des Werner Holt

Roman einer Jugend

Vorspiel

1

   Der Wecker rasselte. Werner Holt schreckte aus dem Schlaf, sprang aus dem Bett und stand ein wenig taumelig Im Zimmer. Er fühlte sich nicht erfrischt, sondern matt und benommen. Sein Kopf schmerzte. In einer Stunde begann der Schulunterricht.

   Durch die weitgeöffneten Fenster flutete Sonnenlicht. Der Mai des Jahres 1943 endete mit heißen, trockenen Tagen, mit prachtvollem Badewetter. Der Fluss, der bei der kleinen Stadt reißend durch die Berge brach, lockte mit seinen grünen Ufern weit mehr als das ziegelrote Schulhaus und seine muffigen Räume.

   Mathematik, Geschichte, Botanik und Zoologie, dachte Holt, und dann zwei Stunden bei Maaß, Studienrat Maaß, Latein und Englisch. Die Ãœbersetzung aus dem Livius muss ich bei Wiese abschreiben, in der großen Pause. Wenn ich bei Zickel drankomm, meck-meck, dann gibt´s ein Fiasko... Allmählich wich der dumpfe Schmerz, der hinter der Stirn saß. Er erinnerte sich jetzt, erregend und beängstigend geträumt zu haben, von der Marie Krüger und ihrem zigeunerhaft bunten Rock, und dann von einer Schlägerei mit Wolzow.

   Ich bin krank, dachte er, als ihn bei der dritten Kniebeuge vor dem offenen Fenster ein Schwindelgefühl ergriff, ich geh nicht in die Schule, mir ist elend, ich bleib im Bett. Nein! Das ist unmöglich. Wenn ich heut fehle, dann hab ich verspielt, dann heißt es, ich hab Angst vor Wolzow. Bei diesem Gedanken wurde ihm noch elender. Es hatte gestern mit Wolzow Krach gegeben, es hatte vorgestern, es hatte jeden Tag Krach gegeben; und heute war die Prügelei fällig. Er fürchtete niemanden in der Klasse, aber gegen Wolzow hatte er keine Chance: und damit war er erledigt. Denn ein unbesiegter Held war, von Homer bis heute, so gewaltig wie sein Mundwerk, aber ein besiegtes Großmaul war nur noch lächerlich.

   Es ist ein Jammer, dachte Holt, als er sich unlustig und frierend mit kaltem Wasser wusch und dabei in den Spiegel starrtet es ist ein großer Jammer: Wolzow und ich, wir würden die ganze Schule beherrschen, wenn wir Freunde wären, denn die älteren Jahrgänge sind beim Militär, wir sind die oberste Klasse.

   Er trocknete sich ab. Er befühlte Wangen und Oberlippe der Bart ließ sich Zeit, das war Holts Kummer. Er rasierte sich nur aus Prestigegründen. Mit sechzehneinhalb noch fast ohne Bart... eine Schande! Kein Wunder, dass er sich mit so einer glatten Haut nicht an die Marie Krüger herantraute, wenn sie dann und wann wie eine Katze in der Badeanstalt herumstrich. Immerhin: als er ihr kürzlich begegnet war, da - er besann sich genau - hatte sie ihn mit einem verwirrenden Blick angeschaut... Außerdem: kratzte es am Kinn nicht doch schon ganz ordentlich?

   Einsfünfundsiebzig groß, siebenundsechzig Kilo schwer, schmal, doch muskulös, aber neben Wolzow, der einsachtundachtzig maß und fast neunzig Kilo wog, eben doch beinahe knabenhaft. Dunkeläugig, dunkelhaarig sah er sich im Spiegel, und das Haar war sehr widerborstig und ringelte sich gern in die Höhe. Er kämmte sich, er kleidete sich an. Der Kopfschmerz war vergangen, nur ein dumpfer Druck wollte nicht von der Stirn weichen. Auch machte das Schlingen Beschwerden, und der Mund war trocken.

   Wolzow galt seit eh und je als der größte Flegel der Schule, zweimal Consilium, das dritte Mal nur durch Intervention seines Generalsonkels dem Hinauswurf entgangen. - Und ich Idiot komm neu in die Klasse und lauf ihm den Rang ab, statt seine Freundschaft zu suchen! Das wär ein Freund, Gilbert Wolzow, ein Freund wie Hagen von Tronje, Winnetou oder Roller!

   Er war fertig, er stopfte ein paar Bücher in die Aktentasche, dann lief er die Treppen hinab.

   Das Haus gehörte den Schwestern Eulalia und Veronika Dengelmann, eigentlich deren Mutter, einer fünfundachtzigjährigen Greisin, die wegen Altersschwachsinn entmündigt worden war. Die beiden Schwestern, zweiundfünfzig und sechsundvierzig Jahre alt, unterhielten eine Pension, "Kost und Logis für alleinstehende Herren". Holt wurde verwöhnt, da seine Mutter großzügig zahlte; er war zeitlebens verwöhnt worden. Seit zwei Monaten lebte er in der Pension und tyrannisierte die Schwestern.

   Er trat in das Wohnzimmer im Erdgeschoß und rief nach dem Kaffee. Veronika Dengelmann, die jüngere der Schwestern, das Gesicht dick mit Fett eingerieben und die Haare voller Lockenwickel, setzte die Tasse und den Teller mit Broten vor ihn hin. "Guten Morgen."

   Holt antwortete nicht. Er dachte: Ich bin krank. Gleich wird sie wieder anfangen: Beeilen Sie sich... Das Schlucken schmerzte, die Kehle war wund. Fräulein Dengelmann sagte: "Beeilen Sie sich! Es fällt wieder auf uns zurück, wenn Sie zu spät kommen..."

   Holt schob den Teller mit den Broten von sich. Durch die für trat Eulalia, in einen verwaschenen Schlafrock gewickelt. Sie hat ein Gesicht wie ein Schaf, dachte er, und Veronika sieht aus wie der Vollmond.

   "Sehen Sie zu, dass Sie fortkommen", sagte nun auch Eulalia, "es ist gleich sieben..." Er warf ihr einen bösen Blick zu. Wenn Wolzow mich verdroschen hat, dachte er, muss ich etwas so Verrücktes anstellen, dass mein Ansehen wiederhergestellt wird. Bei Maaß, beim Ordinarius! Ich habe alle Lehrer hereingelegt, Zickel, meck-meck, Schöner, Gruber, alle... Mag Zemtzki sticheln: Bei Maaß traust du dich nicht... Bei Maaß traut sich keiner, nicht mal Wolzow. Aber ich bin gerissen, ich fange auch Maaß, und das wird mich zum Helden des Tages machen. Ich werde bei Maaß die Sprache verlieren, und wenn er mich bestrafen will, zieh ich ein ärztliches Attest aus der Tasche, dass ich seit gestern taubstumm bin; aber woher nehm ich das Attest? Oder ich werde bei einer Antwort den Mund nicht mehr schließen und bloß noch lallen können, Maulsperre, Kieferklemme, da wird die Klasse toben vor Freude, und wenn Maaß vor Wut einem Schlaganfall nah ist, gibt mir jemand die vereinbarte Ohrfeige, und dann ist alles wieder in Ordnung; da soll er mir erst mal was beweisen! Das ist eine gute Idee! Oder... ob man ihn mit seinen wahnsinnigen Schachtelsätzen reinlegen kann?

   Er saß unbeweglich am Tisch. Ein herrlicher Tag! Ich möchte ein Segelboot haben! Man könnte... Sein Blick fiel durch das Fenster auf die gebeugte Gestalt der alten Dengelmann; die Greisin tappte durch die Beete und riss die jungen Kohlrabipflanzen aus dem Boden, eine nach der anderen... "Fast jeden Tag kommen Sie zu spät zur Schule", schimpfte Veronika Dengelmann, "gestern traf ich Herrn Benedict..." Benedict? Das war der Turnlehrer, und er war harmlos ... Und jetzt reißt die Alte tatsächlich auch noch die Salatpflanzen aus! "Passen Sie auf Ihren Grünkram auf", sagte Holt, "die Alte ist im Garten!" - "Ogottogott!" Türen schlugen. Im Garten erhob sich Gezeter.

   Holt verließ das Haus. Langsam ging er die Bahngeleise entlang; er ließ sich Zeit, er kam sowieso zu spät zum Unterricht, und Ausreden gab es genug. Meistens mussten die geschlossenen Bahnschranken herhalten.

   "Holt!" rief es hinter ihm. "Warte!"

   Das ist Rutscher, der verdirbt mir den Schulweg. Fritz Rutscher war der Sohn eines vor zwei Jahren verstorbenen Studienrates. "Schon sieben durch", keuchte er "... müssen uns beeilen!" Er war vom schnellen Lauf so außer Atem, dass er das Stottern vergaß.

   "Hast du Angst?" sagte Holt mürrisch. "Zu zwein", stammelte Rutscher, ein semmelblonder Junge, "zu zwein findt man bessere Ausreden!" Sie überquerten die Bahngeleise. Nun führte die Bismarckallee, breit und von Linden gesäumt, hinab in die kleine Stadt. Links und rechts standen Villen.

   Hier wohnen Barnims, dachte Holt. Er blickte neugierig auf ein großes, geklinkertes Haus. Oberst Barnim hatte zwei Töchter. Gerda, fünfzehnjährig, besuchte die Mädchen-Oberschule; Holt traf sie manchmal auf dem Schulweg, ein mageres, sommersprossiges Mädchen. Sie soll noch eine Schwester haben, Uta Barnim, die ist neunzehn, Abitur mit Auszeichnung, und voriges Jahr war sie Gebietsmeisterin im Tennis; ich hab sie noch nie gesehen, aber alle sagen, sie ist das schönste Mädchen in der Stadt. Und hier wohnt der Peter Wiese, gleich nebenan. Der ist natürlich längst in der Schule, der Wiese-Peter, ein richtiger Miesepeter, der Primus, der alles weiß und lateinische Reden halten kann, aber nie einen Jux mitmacht. Er spielt wunderbar Klavier.

   Schon oft war Holt, unter irgendeinem Vorwand, im Hause des Amtsrichters Wiese erschienen und hatte schließlich gesagt: "Spiel doch mal was, du..." Dann setzte sich der kränkliche und schwache Peter an den Flügel. Holt konnte stundenlang zuhören, unbeweglich in einem Sessel.

   Vor Holts Augen drehten sich feurige Kreise, es rauschte in seinen Ohren... Er rang nach Atem. "Was hast du?" rief Rutscher. Ein Kälteschauer lief über Holt hin, dann wurde ihm heiß. Sollte er wirklich krank sein? Alles war ganz nahe herangerückt, wie durch ein Vergrößerungsglas anzusehen, und Rutschers Stimme hatte ein Echo...

   "Was sagen wir dem Schöner?" fragte Rutscher. - "Am Bahnübergang war´n Verkehrsunfall. Da ist ein Radfahrer mit einem Lieferwagen zusammengestoßen." - Rutscher staunte: "Hast du das g-g-gesehn?" - "Das sagen wir! Wir mussten der Polizei alles zu Protokoll gehen." - "Großartig!" Rutschers Phantasie entzündete sich. "Ich werd sagen, der Radfahrer hat ganz f-f-furchtbar geblutet!" - "Hör auf", sagte Holt. "Und lass mich reden, verstanden?"

   Holt blieb in der Tür stehen und überschaute den Klassenraum. Schöner, der Mathematiklehrer, stand an der Tafel und malte sie wie üblich voll Zahlen. Er war ein Mann von achtundsechzig Jahren, der, wie fast alle Lehrer der Schule, schon einmal pensioniert gewesen und nun wieder zum Unterricht herangezogen worden war. Er ließ die Schüler in Ruhe und rechnete selbst; seine Unterrichtsstunden verliefen still; niemand, außer Peter Wiese, arbeitete mit. Holt sah, dass der dicke Christian Vetter, Sohn eines Schreibwarenhändlers, hinten in der Ecke am Fenster, mit irgendwem Karten spielte. Gilbert Wolzow, wegen seiner Körpergröße quer in der Bank, saß über einem dicken Buch und las.

   Holt brachte seine Entschuldigung in einem frechen und provozierenden Ton vor, der sie von vornherein unglaubhaft machte... Der blutende Radfahrer wurde mit Geschrei begrüßt, aber es klang ein wenig lustlos. Nur Fritz Zemtzki, ein Bürschlein mit brandrotem Haar, quäkte mit heller Kinderstimme: "0 Gott, der arme, arme Radfahrer!", aber auch das fand keine Resonanz. Es war wieder still; in der Ecke warf Vetter seine Trümpfe auf den Tisch.

   Schöner trug Holts Verspätung ins Klassenbuch ein. Rutscher war unbemerkt auf seinen Platz geschlichen. Die Eintragung hatte keine Bedeutung, denn Schöner schrieb mit Bleistift, und seine Eintragungen wurden wieder ausradiert, jeder Tadel und auch die Schulaufgaben. Aber als Holt in der Pause mit einem Radiergummi aufs Katheder stieg, rief Wolzow mit rauher, wüster Stimme: "Na, da hast du Schiss, dass der Maaß was erfährt!"

   Holt klappte das Klassenbuch zu. Mochte die Eintragung stehen bleiben! "Ich und Schiss?" sagte er. "Vor Maaß haben andere Leute Schiss, auch wenn sie sonst mit der Schnauze vornan sind!" - "Meinst du mich?" fragte Wolzow drohend und legte den Kopf auf die Seite... Aber da schrillte schon, vom Korridor her, der Warnungspfiff, und Knack marschierte ins Zimmer, dreißigjährig, wegen eines Herzfehlers wehrdienstuntauglich, Studienassessor Knack. Heil Hitler, Kameraden!"

   Die Klasse antwortete: "Heil Hitler!" - "... Kamerad Knack", rief Holt hinterher, denn er wollte es Wolzow zeigen. In der Klasse gab es unterdrücktes, beifälliges Gelächter. Wolzow biss sich auf die Lippe. Zum zweiten Male an diesem Morgen wurde Holt ins Klassenbuch eingetragen, getadelt wegen "unarischer Frechheit", wie Knack mit seiner schnarrenden Kommandostimme bekannt gab. Dann begann der Geschichtsunterricht. Dies ist Wolzows Stunde, dachte Holt.

   Gilbert Wolzow war ein paar Monate über sechzehn Jahre alt. Sein Vater, der Oberst Wolzow, stand als Regimentskommandeur an der Ostfront. Wenn man Wolzows Erzählungen glauben durfte, so waren die Wolzows ein preußisches Offiziersgeschlecht, das seit zweihundert Jahren ausnahmslos Offiziere hervorgebracht hatte; der Bruder des Obersten Wolzow war Generalmajor. Auch Gilbert wollte Offizier werden, und er bereitete sich von Kind an darauf vor.

   Er war der ungekrönte König der Klasse, ja der Schule, der die Cliquen und Schülergruppen mit Gewalt zusammenhielt und niemals, bis Holt in die Klasse eingetreten war, Widerspruch geduldet hatte. Er war zugleich der "frechste und faulste Schüler der Anstalt", wie Maaß, der Klassenlehrer, des öfteren sagte, denn er stand in den meisten Fächern so Jammervoll schlecht, dass seine Versetzung in die nächste Klasse diesmal gefährdet schien. Aber in allem, was mit Krieg, Kriegswesen, Kriegsgeschichte, mit Waffentechnik und Kriegsgerät zu tun hatte, war er ein Phänomen. Er hatte frühzeitig begonnen, die kriegswissenschaftliche Bibliothek seines Vaters zu lesen, und sein erstaunlich gutes Gedächtnis hatte eine Fülle von Einzelheiten behalten, über die er nach Belieben verfügte; entfiel ihm doch einmal ein Schlachtendatum, der Name eines Feldherrn, so schlug er in dem dicken Taschenbuch nach, das er immer mit sich herumschleppte... Jetzt saß er zurückgelehnt in seiner Bank, das Gesicht mit den grauen Augen und der Adlernase emporgehoben zu Knack.

   Knack und Wolzow führten während des Geschichtsunterrichts endlose Debatten. Knack charakterisierte seine Geschichtsauffassung des öfteren als "rassisch-völkisch". Wolzow stand neben seiner Bank und erklärte: "Geschichte, das ist Krieg. Von 1469 vor bis 1930 nach Christi Geburt hat es nur zweihundertvierundsechzig Jahre Frieden, aber dreitausendeinhundertfünfunddreißig Jahre Krieg gegeben ." - "Vergessen Sie nicht das rassische Moment", ergänzte Knack, "die wertmäßigen Unterschiede der Völker, die rassischen Triebkräfte..."

   Holt saß stumm auf seinem Platz und hörte Knack mit der ewig gleichen, schnarrenden Stimme sagen: "Das Reich gründet sich bewusst auf uralte mythische Vorstellungen und Kräfte des Volkes ..." Er döste vor sich hin, der Kopf schmerzte, und der Hals war wie zugeschnürt... Neben ihm saß Sepp Gomulka, Sohn eines Rechtsanwaltes, ein braunhaariger, kluger Junge, der sich meist zurückhielt und sich nur manchmal, im Ãœbermut, an den Ausschreitungen der Klasse gegen die alten Lehrer beteiligte. Er war ein Einzelgänger, trieb sich mit seinem Kleinkalibergewehr in den Wäldern umher und Schoss Eichelhäher, statt sich den Schulaufgaben zu widmen. Während Knack redete und redete, schnitzte Gomulka mit einem Messer an seiner Bank und sammelte die Späne in einer Tüte aus Löschpapier... Auf dem Platz vor Holt saß der zarte, ewig kränkelnde Peter Wiese, der diesen Sommer zu seiner Kräftigung täglich zwei Stunden in der Badeanstalt zu verbringen und Sport zu treiben hatte, eine Maßnahme, unter der er litt. Holt schrieb auf einen Zettel: "Gib mir deine Lateinübersetzung!" Er wollte für den Weigerungsfall eine Drohung hinzusetzen, unterließ es aber und schob den Zettel zu Wiese. Wiese las und nickte.

   Aber in der großen Pause fand Holt keine Gelegenheit, die Ãœbersetzung abzuschreiben, obwohl eine fehlende Hausaufgabe bei Studienrat Maaß schlimme Folgen haben konnte. Die Schüler begaben sich ins Biologiezimmer. Der bevorstehende Unterricht bei Doktor Zicke!, genannt Meck-meck, riss sie aus ihrer Lethargie. Christian Vetter, blond, mit rundem Kindergesicht und blanken Schweinsäuglein, .wegen seiner Körperfülle seit eh und je gehänselt und verspottet, probierte ein paar quiekende und grunzende Geräusche aus. Wolzow und Holt standen mit gleichgültigen Gesichtern beieinander. Gomulka wetzte sein Messer an der Gasleitung des Experimentiertisches, und Kirsch, Tischlersohn, von Knack als Vertreter des "bodenständigen Handwerks" gefeiert, futterte Brot auf Brot in sich hinein, wodurch er zu wachsen hoffte, denn er war nur einssechzig groß. Nadler, ein stämmiger, blonder Junge, wurde von seinen Freunden Schönfeldt, Grubert und anderen umlagert, die in der Nachrichten-HJ seine Untergebenen waren. Hingegen war Wolzows Laufbahn als HJ-Führer nach verheißungsvollem Start schon vor zwei Jahren geendet, nachdem er seinen Stammführer mit den Worten stehengelassen hatte: "Von so einem militärischen Rindvieh nehm ich doch keine Befehle entgegen!"

   Zemtzki piepste plötzlich: "Gilbert, das musst du zugeben: den Knack hat der Werner prima veralbert!" - "Scher dich vor die Tür und pass auf!" befahl Wolzow. Dann sagte er zu Holt: "Glaub bloß nicht, es war was Besonderes." Er blickte sich suchend um. Dann trat er zur Tafel. Dort stand ein Skelett, das Doktor Zicke! im Unterricht brauchte, neben dem großen Aquarium. Wolzow, in Breeches und Stiefeln, den Brustkorb von einem verwaschenen HJ-Hemd umspannt, holte ein Stück Holzkohle aus der Hosentasche und begann, den Totenschädel zu beschmutzen. Peter Wiese erblasste. Er fürchtete Wolzow, den er "miles gloriosus", ruhmredigen Kriegsmann, nannte; Holt freilich hatte gloriosus kurzerhand mit "prahlerisch" übersetzt.

   Jetzt malte sich Angst in Wieses Gesicht, denn er, der Primus, wurde als erster nach dem Täter befragt, und da er niemals einen Lehrer belog, beim Verrat aber erbarmungslos Prügel bezog, geriet er jedesmal in Gewissensnot, aus der ihn andere mit der Lüge erlösen mussten, Wiese könne nichts wissen, er sei nicht im Zimmer gewesen...

   Wolzow sah Holt ins Gesicht und fragte: "Wie findest du das?" Holt ging wortlos zur Tafel, nahm den Schädel vom Skelett und warf ihn In das große Aquarium. Wasser und Schlingpflanzen schwappten auf den Boden.

   Die Klasse tobte. Dann wurde es still. Man blickte gespannt auf Wolzow. Wolzow verlor die Beherrschung. "Warte!" schrie er, leicht nach vorn geneigt. "Wenn du wirklich soviel Mut hast, dann komm heute um vier zum Rabenfelsen, damit ich dir endlich ... !" - "Du bist wohl am Ende?" höhnte Holt. "Was Bessres als Prügel fällt dir wohl nicht ein?" - "Jetzt dreh ich ein Ding", schrie Wolzow, "von dem die ganze Stadt sprechen soll!" Zemtzki steckte den Kopf zur Tür herein. "Gilbert... nicht! Nein! Du... fliegst, wenn sie dich erwischen!" - "Seht den großen Wolzow!" spottete Holt. "Er will sich prügeln, aber er hat Schiss vor den Paukern!"

   Wolzow starrte auf das Aquarium, wo der verunstaltete Totenschädel durch die Ranken der Wasserpest grinste und die roten Leiber sechs tropischer Zierfische im grünen Wasser hin und her glitten. "Sepp", befahl Wolzow, "schaff mir das Katzenvieh vom Hausmeister her!"

   "Gilbert", sagte Gomulka, "lass das... Maaß wirft dich raus!" Aber jemand rief schon Zemtzki auf dem Korridor zu: "Du sollst dem Wolzow die Katze bringen!"

   Zemtzki brachte die Katze, ein getigertes, wildes Biest, das argwöhnisch äugte, nervös durch die lärmenden Stimmen der Jungen. Wolzow nahm sie mit einem Griff seiner Rechten am Fell; sie legte sich flach gegen seine Brust, die Schwanzspitze krümmte sich leise. Wolzow streichelte sie: "Ruhig, Miezchen! Gleich gibt´s was Schönes..." Er tauchte den nackten linken Arm ins Aquarium. "... was Schönes zu fressen... was Markenfreies... eine Sonderzuteilung!" Dann warf er den ersten Fisch auf den Boden... Die Katze war mit einem Satz abgesprungen und verschwand mit dem zappelnden Salmler unter einer Bank. Stumm und atemlos sah die Klasse zu, wie Wolzow Prachtschmerlen und Barben aus dem Aquarium fischte. Die Katze begann laut zu schnurren. Sie fraß, dass es knirschte, und ihre Augen funkelten. Dann schlich sie davon, leckte sich das Maul, noch immer schnurrend, und von Doktor Zickels Fischen blieben nur ein paar glänzende Schuppen auf dem Fußboden zurück.

   "So!" sagte Wolzow. Das Schweigen war wie eine Huldigung, die er gelassen entgegennahm. "So, mein Lieber! Wer hat hier Schiss vor den Paukern?" Er ging zu seinem Platz, setzte sich und nahm sein Buch vor. Er war blass. Er rief: "Vergiss nicht, heut um vier!" Aber Holt dachte nur dies: Er fliegt, und ich hab ihn dazu getrieben...

   Zemtzki pfiff.

   Doktor Zickel war ein verkümmertes Männlein mit dem Habitus eines zwölfjährigen Jungen, dem man den Kopf eines Greises aufgesetzt hat. Er trat vor die Klasse, in Knickerbockers, grüner Joppe und weißem Hemdchen mit geöffnetem Bubikragen. Mit einer heiseren Knabenstimme rief er den Hitlerrgruß. Seine Rede war voller Eigenarten: er pflegte öfters "ni wahr" zu sagen und gab, zwischen die Worte eingestreut, ein seltsames Geräusch von sich, eine Mischung aus Hüsteln und Räuspern, die wie "Kh-kh" klang. Er sagte: "Wo is ni wahr... das Klassenbuch... kh-kh...?" Aus einer Ecke kam ein gedämpftes "Meck-meck", was ihn nervös machte, ohne dass er darauf eingegangen wäre... Er war viel Kummer gewöhnt. Sein Blick fiel auf das kopflose Skelett, und die magere Brust hob sich in erregten Atemzügen. "Das is... kh-kh. das is enne Lumperei is das, ni wahr..." Er schaute wild in die Klasse, dann sah er aufs Aquarium, und er wankte.

   "Wer... wer is es gewesen?"

   "Herr Lehrer!" rief der kleine Zemtzki. "Ich bin es nicht gewesen, aber ich bin es nicht allein nicht gewesen, die anderen sind es auch alle nicht gewesen!"

   Zickel war außer sich. Er trat ans Aquarium, und er schrie, mit einer Wut, die seinen schmächtigen Körper erzittern ließ: Wer... kh-kh... hat den Schädel... ihr feigen Gesellen kh-kh... wer hat den Schädel von dem armen Skelett, ni wahr, das is doch auch emal e Mensch gewesen... wer hat´n ins Aquarium ..." Aber jetzt erst erkannte er das ganze Ausmaß dessen, was man ihm angetan hatte, und sekundenlang brachte sein bebender Mund nichts als ein spuckendes Kh... kh-kh..." hervor.

   "Wolzow! Haben Sie... die Fische...?"

   "Lassen Sie mich doch mit Ihren kindischen Verdächtigungen in Ruhe", knurrte Wolzow, ohne aufzustehen ... Und nun log die Klasse mit einer Ausdauer, an der Zickels Wut verpuffte. Verzweifelt begann er eine Untersuchung, aber da seinem Zorn jede physische Grundlage fehlte, die langwierige und ermüdende Befragung der Schüler zu überdauern, lag man immer dreister und verhöhnte ihn, und Zickel ermattete, dem Weinen nahe.

   "Fische?" sagte Holt, als er an der Reihe war, mühsam, mit schwerer Zunge, er hatte kaum noch die Kraft aufzustehen. "Die Fische sind weg? Vielleicht... hat der Totenkopf sie gefressen!" Das Gejohl der Klasse erreichte kaum sein Ohr; "Elender Bube... kh! Los, Vetter, wo sin die schönen roten Fische?"

   "Rote Fische?" sagte Vetter. "Warn das denn Fische? Ich dachte immer, das sind Tomaten!"

   "Herr Lehrer", rief Zemtzki, und er stocherte mit dem Zeigefinger in der Luft herum, "ich hab die roten Fische gesehen! Gestern warn sie noch da! Heißa! Aber sechs, nein, so viele warn das nicht!"

   "Wie viele... kh-kh... haben Sie gesehn?" fragte Zickel mit neuer Hoffnung.

   "Na, so null bis eins", antwortete Zemtzki, und er sah dem Lehrer mit großen, blauen Augen unschuldsvoll ins Gesicht.

   Die Untersuchung verlief ergebnislos. Studienrat Maaß setzte sie fort. Holt nahm nicht teil an dem Durcheinander, das in der Pause herrschte. Er saß zusammengesunken auf seinem Platz im Klassenzimmer, der Schweiß brach auf seiner Stirn hervor, und der Kopf schmerzte... "Du hast ein ganz rotes Gesicht", sagte Gomulka teilnahmsvoll, "wie gesprenkelt, bist du krank?" Holt schüttelte den Kopf.

   Die Katze brachte alles ans Licht; sie hatte in der Wohnung des Hausmeisters die unverdauten Fische wieder ausgebrochen.

   Ein Lehrer hatte den Ruf gehört: Du sollst dem Wolzow die Katze. bringen..." Wolzow war überführt. Er stand neben seiner Bank und log beharrlich, er wisse von nichts, man möge ihn in Ruhe lassen, er sei es nicht gewesen.

   Maaß hockte dick und massig hinter dem Katheder. Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, spiegelte sich auf seiner Glatze, die von schlohweißem Haar umrahmt war. Das runde und feiste Gesicht grinste triumphierend, die Augen hinter der hellen Hornbrille waren kalt und mitleidlos auf Wolzow gerichtet, "Sie sind erledigt, Wolzow", sagte er, mit einem begeisterten Zittern in der Stimme, "auch ohne Geständnis erledigt." Er schielte über die Ränder der Hornbrille hinweg auf sein Opfer. Es war sein Steckenpferd, verworrene Schachtelsätze zu konstruieren, die er mit strenger Logik zu Ende sprach; er hielt die Klasse mit diesen Sätzen in Spannung, er vollendete auch den schwierigsten Satz und heimste das ehrfürchtige Aufatmen der Schüler als Beifall ein. "Unsere Anstalt", begann er, "die einmal vom strengen Geist des Lerneifers und Gehorsams regiert, durch Sie jedoch wie durch einen Bazillus vergiftet wurde, mit Anarchie und Disziplinlosigkeit, was kein zweites Mal Ihr Onkel wird sanktionieren können...", er legte eine Pause ein, um die Spannung zu steigern, und dann vollendete er: "... wird nun endlich und endgültig von Ihnen befreit werden. Ich beglückwünsche mich zu diesem Erfolg." Alle Augen waren auf Wolzow gerichtet. Wolzow sah bewegungslos vor sich hin; nur Holt, zurückgelehnt und zusammengesunken, blickte auf Maaß. Er dachte: Wolzow wird nicht relegiert werden! Wolzow ist ab heute mein Freund.

   "Nehmen Sie Ihre Tasche, Wolzow, und verlassen Sie auf der Stelle das Schulhaus. Sie sind relegiert. Der Brief des Direktors folgt Ihnen auf dem Fuß."

   Moment", sagte Holt.

   Er erhob sich. Er fühlte Wolzows Blick auf sich gerichtet. Er lehnte sich rücklings gegen die Bank. "Der Brief des Direktors", engte er, und seine Stimme krächzte, "folgt Wolzow nicht auf dem Fuß. Wolzow ist es nicht gewesen... Man hat sich... verhört... Wolzow soll mir die Katze bringen, wurde gerufen..." Er musste seine Worte sehr langsam formen, denn die geschwollene Zunge versagte den Dienst. "Ich, bin es gewesen", sagte er. Peter Wiese, das Gesicht auf Holt gerichtet, erstarrte in Staunen und Bewunderung... "Ich bin es gewesen... Wiese wird es bezeugen..." Wiese erhob sich, wie unter einem Zwang, und zum ersten Mal in seinem Leben belog er einen Lehrer, als er mit tief auf die Brust gesunkenem Kopfe sagte: "Ja... Holt war es... ich bezeuge es."

   Holt hörte nur noch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Vier Stunden Karzer? Egal! Blauer Brief an meine Mutter? Sie wird bloß lachen... Und jetzt sieht er ins Klassenbuch... Die Eintragungen? Wenn er wüsste, wie egal mir das alles ist!

   "Sieh mal an", sagte Maaß, wütend vor Enttäuschung. "Zwanzig Minuten zu spät gekommen ist das elende Früchtchen außerdem..." Er wurde ironisch, das war der Ausdruck höchsten und gefährlichsten Zornes. "Hatte Ihre Wirtin, ich glaube mich zu erinnern, dass sie Dengelmann heißt, Eusebia Dengelmann, doch halt, nein, Eulalia war wohl der Name, ein wohlklingender Name, der aus dem Griechischen stammt..." Er schaute bewegungslos durch die Gläser der Hornbrille auf die Schüler, die atemlos an seinem Munde hingen, und vollendete: "... wieder einmal Nasenbluten?"

   Holt blinzelte. Er sah auf einmal alle Gestalten und Gegenstände in verschwommenen Umrissen; in seinen Ohren hallte als vielfaches Echo das letzte Wort: Nasenbluten... Nasenbluten... Wohltuende Müdigkeit überkam ihn, Gleichgültigkeit. Man müsste ein Segelboot haben, dachte er, jetzt, wo Gilbert mein Freund ist, und nun ist´s geschafft: Wolzow gerettet, und er wird mir´s danken!

   "Reden Sie!"

   Ach so. Ich muss ja noch den Maaß veralbern! dachte Holt. Er wird ungeduldig? Ich will dir schon antworten! Deine Schachtelsätze imponieren mir nicht, das kann ich schon lange! "Mitnichten", sagte er. Sein Gesicht war rot, nur von den Nasenflügeln über die Mundwinkel bis zum Kinn war ein blasses Dreieck ausgespart. Eine Bewegung lief durch die Klasse, und Maaß, bei dem altertümlichen Wort "mitnichten", furchte die Stirn. "Mitnichten hat die Nase meiner Wirtin, deren Namen Eulalia... Eulalia, wie Sie die Güte, sich zu erinnern, hatten, lautet, geblutet, aber...", das Aber schrie er hinaus, denn Maaß hatte den Mund schon geöffnet, um Holt zu unterbrechen, "aber mich... hatte morgens die Polizei... da ein Fahrrad, das ein Mann, der eine graue Jacke... die vielfach geflickt war, trug... fuhr... mit einem Auto, das auf der Straße... die über die Geleise, die vom Bahnhof, der unmittelbar bei meiner Wohnung... liegt... kommenÂ… führt... entlangkam... zusammenstieß... gebeten..."

   Er hielt inne. Auch das war geschafft! Wie durch Nebel sah er die Augen seiner Mitschüler auf sich gerichtet, und Maaß lehnte nach vorn über dem Pult, und sein Unterkiefer war heruntergeklappt. "...meine Beobachtungen als Zeuge zu Protokoll zu geben", vollendete Holt. Dann fiel er seitwärts zu Boden.

   Peter Wiese lief zum Hausmeister, Rutscher stotterte: "Er war schon morgens auf dem W-w-weg so komisch!" Maaß beugte sich über Holt und sagte: "Das ist... Scharlach... !" Wolzow schob ihn beiseite. Bald fuhr der Krankenwagen vor.

2

   Der Juni ging ins Land. Holt lag in der Infektionsabteilung des städtischen Krankenhauses. Wolzow kletterte jeden Tag über die Mauer und schlich durch den Garten unter das Fenster. Sein Pfiff wehte ins Krankenzimmer.

   Die ersten Tage lag Holt fast ohne Bewusstsein im Fieber, dann genas er rasch und überwand Mattigkeit und Schwäche. Als er wieder bei Kräften war, empfand er den langen Aufenthalt Im Krankenhaus wie eine Freiheitsstrafe. Seine Mutter, von den Schwestern Dengelmann herbeigerufen, hatte unterdessen bei allen Ärzten vorgesprochen, hatte Trinkgelder an Schwestern und Pfleger verteilt und war wieder abgereist, ohne ihren Sohn gesehen zu haben, und er war nicht einmal böse darüber.

   Aber Wolzows Besuche machten ihn froh. Wolzow brachte Nachricht von der Außenwelt. Die Schule war nach Holts Erkrankung für zwei Wochen geschlossen worden, was Holt bei den Schülern aller Klassen populär gemacht hatte wie die Revolte gegen Maaß. Er war der Held des Tages. Wolzow neidete es ihm nicht länger und war bereit, seinen Ruhm zu teilen. Als das Fieber gewichen war, sprang Holt, wenn im Garten der Pfiff ertönte, ans Fenster. "Wie geht's?" fragte Wolzow. "Eigentlich bin ich gesund... Ich soll mich schälen und muss immerfort ganz heiß baden." - "Hau ran!" sagte Wolzow... Gestern hatte der Unterricht wieder begonnen, da kein weiterer Krankheitsfall vorgekommen war. "Zum Kotzen langweilig", meinte Wolzow. "Wenn du rauskommst, dann ist irgendwas fällig..." - "Ich überleg schon... was Abenteuerliches!" - "Abenteuer ist Quatsch", erklärte Wolzow bestimmt. "Karl May und so was, das ist alles Schwindel. Bloß der Krieg ist richtig." - "Weißt du was Neues vom Flak-Einsatz?" - "Noch dieses Jahr, vielleicht schon im Herbst."

   Diese Perspektive nahm Holt vollends die Lust am Schulunterricht. Er überlegte: Wenn ich Glück hab, ist die Schule für mich vorbei..."Ich bekomm zwei Wochen Schonung", sagte er, "dann sind große Ferien... Bloß gut! Wenn ich an Maaß denke.

   "Maaß ist ein Satan", sagte Wolzow. Er stand breitbeinig in einem Blumenbeet, die Hände in den Taschen vergraben, und unter seinen Stiefeln knickten Rosen und Nelken... "Weißt du, was Maaß gesagt hat? Dein Scharlach wäre ein ganz raffinierter Trick, dass er dich nicht bestrafen kann. Da ist Gomulka aufgestanden und hat gesagt: 'So ein Trick will gekonnt sein, Herr Studienrat!' Maaß hat ihn gleich zwei Stunden eingesperrt."

   Ein andermal brachte Wolzow den kleinen Peter Wiese mit und hievte ihn über die Mauer. Wiese riss sich dabei ein Dreieck in die Hose. "Wenn du gesund bist, spiel ich dir vor, was du willst." Tags darauf gab er Bücher für Holt ab.

   Holt hatte schon immer viel gelesen, und in diesen Tagen, da er im Bett lag und ungeduldig seiner Entlassung entgegensah, las er wahllos, was man ihm aus der Anstaltsbibliothek brachte. Da waren viele seiner Lieblingsbücher dabei, die er nun zum zweiten oder dritten Male durchschmökerte: Stevenson und Jack London, Karl May und die Indianerbücher von Fritz Steuben, Gagerns "Grenzerbuch", eine Feldpostausgabe "Auswahl aus Nietzsches Werken", Hanns Johsts "Ave Eva" und natürlich Kriegsbücher, immer wieder Kriegsbücher, von den Taten des U-Bootfahrers Weddigen bis "Sieben vor Verdun", und dann Ernst Jünger, "Das Wäldchen 125", "Feuer und Blut" und "In Stahlgewittern" ... Beumelburg, Zöberlein, Ettighoffer und was es noch alles gab... Nun las er, was Peter Wiese gebracht hatte: Novellen von Storm und einen Band "Märchen der Romantik".

   Er lag unbeweglich in seinem Bett und sann über die Gestalten nach, die er leibhaftig vor sich sah: Elisabeth, das Puppenspieler-Lisei und die dunkle Renate vom Hof... So ein Mädchen müsste man kennen lernen, dachte er beklommen. Wolzow verabscheute Mädchen und fand Liebe unmännlich; Holt aber hatte das Unvereinbare stets zu vereinbaren gewusst: die Heldengestalten aus der Nibelungensage oder aus König Laurins Mantel verwob er mit Indianerhäuptlingen, Westmännern und den feldgrauen Gestalten der Kriegsbücher zu einem Idealen Heldentypus, in dessen abenteuerlichem Leben für das Grauen der Märchendrachen ebenso Raum war wie für die Anmut Stormscher Mädchenfiguren oder den Gerechtigkeitsfanatismus Karl Moors... Nun las er bei Novalis von einem Liebespaar, in einer Felsenhöhle, bei Blitz und Donner, welches "der erste Kuss auf ewig zusammenschmelzte"... Der erste Kuss... wie mag das sein?

   Er war als Einzelkind aufgewachsen, frühreif, einmal kindisch und ausgelassen, dann wieder ernst, in sich gekehrt. Die frühen Regungen des Geschlechts stürzten ihn in Sehnsüchte und Träume; die Mädchen übten eine immer stärkere Anziehungskraft auf ihn aus, und wo er kein Geheimnis finden konnte, dort schuf er sich eins, indem er das Natürliche mit jenem mythischen Schleier verhüllte, der in zahllosen Büchern die Begriffe von Leben und Liebe verdunkelte, bei Hanns Johst zum Beispiel: die Frau steht im Blutdienst der Schöpfung... Vom ewigen Evangelium der Frauen, vom verrätselten Mythos des Geschlechts las er und grübelte... Die Antwort musste das Leben geben. Er war ungeduldig, voll Sehnsucht nach Abenteuern und Bewährung.

   Seine Eltern waren seit Jahren geschieden; er war bei der Mutter geblieben, der vermögenden Frau aus einer Industriellenfamilie; er war ihr mehr und mehr entglitten, obgleich sie ihn verwöhnt und versucht hatte, ihn für sich zu gewinnen. Er war ihr schließlich mitten im Krieg davongelaufen, in Hamburg aufgegriffen und wieder zurückgebracht worden, und endlich, ein Jahr später, hatte sie seinen Wünschen nachgegeben und ihn aus dem Haus gelassen, hierher, in die kleine Stadt, die ihr von irgendwem als idyllisch und heilsam empfohlen worden war und die weitab von den Industriezentren lag, über denen sich das Unwetter der Bombardements immer dichter zusammenzog.

   Hier war Ruhe. Ringsum waren die Berge von Wäldern bedeckt, eine dünnbesiedelte Landschaft breitete sich weit aus. Hier fühlte Holt sich wohl. Er war in Leverkusen und Bamberg aufgewachsen. Seine Bindung an Vater und Mutter, die er durch Jungvolk und Hitlerjugend von Kindheit an gelernt hatte gering zu schätzen, war endgültig zerrissen und hatte sich in Sehnsucht verwandelt, nach einem Freunde und nach dem anderen Geschlecht. Der Freund schien nun endlich gefunden.

   Wolzow, so überlegte Holt, durfte von alldem nichts wissen: von den Leidenschaften auf Haderslevhuus, von Elisabeth, Undine und dem ersten Kuss in der Felsenhöhle. Wolzow pfiff unter dem Fenster, Wolzow hatte andere Sorgen: "Du musst jetzt schnellstens kriegerische Tugenden entwickeln!"

   In den ersten Julitagen wurde Holt entlassen. Er rechnete: Zehn Tage Erholungsurlaub, am achtzehnten beginnen die großen Ferien, da ist das Schuljahr für mich so gut wie zu Ende. Ãœberdies häuften sich die Gerüchte vom baldigen Flak-Einsatz. Vielleicht hab ich's endgültig geschafft, dachte er, bloß Schluss mit der Schule!

   Die freien Tage verbrachte er meist im Flussbad, aber er durchstreifte auch die Umgebung der Stadt. Eines Morgens ließ er sich Brote einpacken, schnitt sich einen derben Stock und wanderte in die Berge. Die letzten Dörfer blieben hinter ihm zurück. Er tauchte in die Laubwälder. Am Nachmittag stand er mehrere Wegstunden von der Stadt entfernt auf einer hochaufragenden Bergkuppe und schaute über das Land. In einer Schleife des Flusses zog sich ein Hochplateau nach Nordwesten hin, von Erosionstälern zerklüftet, von Felsschluchten, in denen Bäche talwärts zum Fluss stürzten. Durch das Hochplateau waren vereinzelte jüngere Kuppen vulkanischen Ursprungs gebrochen und stiegen auf mehrere hundert Meter an. Er blickte über den dunkelgrünen Teppich der Laub- und Mischwälder hinweg. Der Fluss glänzte im Sonnenlicht, und fern stieg das Gebirge wellig, in grünen Hügeln, zur Ebene ab. Kein Dorf ringsum, kein Weg, kein Haus! - Hier ist es herrlich, dachte er. Ohne Kompass find ich nicht heim. Hier müsste man leben wie Karl Moor mit seiner Bande!

   Der Berg, den er bestiegen hatte, war wie von einer riesigen Axt abgehackt. Am Fuß der Kuppe fand er, auf dem Abstieg, die Höhle. Ein Steinbruch fiel nach Süden tief in eine Schlucht ab. Im Norden hatte die Erosion das Gestein freigelegt. Holt sah ein Tal mit bewaldetem Hang, unwegsam und felsig. Am Steinbruch im Süden, unter der Gipfelkuppe, entwich ein Tier, ein Fuchs vielleicht, in die Büsche, und als er ihm nachspürte und das Buschwerk teilte, fand er einen Felsspalt hinter dichtem Brombeergestrüpp. Er raffte eine Handvoll Reisig auf und kroch unter niedergebrochenen Gesteinsbrocken hindurch, in den Felsen hinein. Es musste ein uralter Bergwerksstollen sein. Schon nach wenigen Metern konnte er aufrecht gehen, und dann erweiterte sich der Gang. Von den Wänden rieselte Wasser. Er brannte das Reisigbund an und sah den Rauch in die Felsen hineinziehen. Dann stand er in einer großen, etwa drei Meter hohen und trockenen Höhle. Durch einen breiten, schachtartigen Felsspalt fiel helles Tageslicht.

   Entdeckerfreude packte Holt. Nichts deutete darauf hin, dass seit langer Zeit ein Mensch hier eingedrungen war. Der Boden war felsig, und die Wände gefügt aus weichem Gestein. Der Schacht, der nach oben ins Freie führte, musste in den Steinbruch der Gipfelkuppe münden.

   Als er die Höhle endlich verließ, sah er draußen den Tag zur Neige gehen, und er beschloss, hier zu übernachten. Ringsum reiften Walderdbeeren, eine üppige Abendmahlzeit. Die Gegend war wildreich. Auf dem Felsabsatz vor dem Höhleneingang wuchs dichtes und hohes Gras. Er bereitete sich ein Lager aus Moospolstern und Laub. Dann stieg er noch einmal zum Gipfel empor. Es wurde Nacht. Tief zu seinen Füßen glänzte das phosphoreszierende Band des Flusses.

   Vor der Höhle entzündete er ein kleines Feuer, ließ einen trockenen Wurzelkloben glühen und streckte sich auf seinem Lager aus. Er starrte in die Glut. Fledermäuse umflatterten ihn. Ãœber ihm stand das Siebengestirn. Er träumte von einem abenteuerlichen Leben, hier in den Bergen, ohne Schule, ohne Maaß. Er träumte vom Sänger und der Prinzessin, von einer verborgenen Felsenhöhle, wo unter Donner und Blitz der erste Kuss das Paar auf ewig zusammenschmelzte. Am Morgen wanderte er noch vor Sonnenaufgang in die Stadt zurück.

   Die Schwestern Dengelmann setzten Holt, als er am Vormittag daheim anlangte, ein Frühstück vor, das ihn misstrauisch stimmte: Eier, Schinkenbrote, Mohnkuchen. Und das, obwohl sie angeblich nicht wissen, wie sie mich ernähren sollen, dachte er. Schieben die etwa heimlich? Die wollen doch was von mir! Er hatte recht. Unter vielen Versprechungen kam es ans Licht: Holt sollte ab September einen zehnjährigen Jungen zu sich ins Zimmer nehmen, da er ja doch ohnehin bald einrücke... Der Vater, ein Herr Wenzel, habe eine Gastwirtschaft, Hühner und Schweine...

   "Einen zehnjährigen Rotzbengel?" sagte Holt zu Eulalia, und Veronika schüttelte missbilligend den Kopf, dass die Lockenwickel rasselten. "Können Sie nicht warten, bis ich bei der Flak bin?" Herr Wenzel schlachte jedes Jahr drei Schweine, erklärte Veronika. Holt warf die Tür hinter sich zu und ging. Im Grunde interessierte ihn das nicht; bis zum 1. September rechnete er fest mit der Einberufung. Er beschloss, baden zu gehen. Das heiße Wetter hielt an.

   Er schlenderte über den Marktplatz. Vor dem Cafe blieb er stehen. Er hatte Lust, Billard zu spielen Billard war große Mode. Aber allein machte es wenig Spaß. Als er weiterging, sah er einen flammend roten Rock, von weitem, auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes.

   Die Marie Krüger! Sein Herz begann zu klopfen. Wenn ich ganz langsam durch die Lauben am Rathaus geh, überlegte er, treff ich genau an der Talgasse mit ihr zusammen...

   Sie war nur noch wenige Meter von ihm entfernt, und beide bogen gleichzeitig in die abschüssige Straße ein, die hinab zum Fluss führte.

   "Guten Tag", sagte er. Sie nickte überrascht und ergriff zögernd seine Hand. "Na?" sagte er, und noch einmal: "Na?... Gehn Sie auch baden?" Wie rede ich sie an, Herrgott?

   Er merkte nicht, dass seine Befangenheit sie belustigte; er sah nur, dass sie lächelte, und ihr Lächeln tilgte in ihm alle Furcht. Er ging neben ihr her. Sie fragte: "Sie schwänzen wohl Schule?"

   "Ich hatte Scharlach und hab Schonung." Er bedauerte, dass ihn seine Klassenkameraden jetzt nicht sehen konnten, an der Seite dieses Mädchens. Ihre Eltern lebten nicht mehr, so hieß es. Sie bewohnte irgendwo ein Zimmer. Sie war siebzehn Jahre alt, schlank, zigeunerhaft, hübsch und schlampig. Die großen, dunklen Augen standen ein wenig schräg in dem schmalen Gesicht. Von der rechten Augenbraue zog sich eine halbkreisförmige Narbe über die gebräunte Stirn. Das lockige braune Haar, das immer unordentlich war, raffte sie mit leuchtend bunten Bändern zusammen. Ãœberhaupt bevorzugte sie eine bunte, absonderliche Kleidung, flammend rote Röcke, knallgelbe Mieder, grüne Halstücher. Die Mädchen aus der Oberschule verachteten sie, die Jungen schauten ihr heimlich nach. Sie stand außerhalb der Gesellschaft, und die Gesellschaft der Kleinbürger hatte feste Schranken. Es gab keine Industrie am Ort. Die Oberschüler sahen seit je auf die Mittelschüler herab, und diese wieder dünkten sich besser als die Lehrlinge und Hausmädchen. Der gemeinsame strenge Dienst in HJ und BdM hatte daran nichts geändert. Es gehörte viel Selbstbewusstsein und auch Mut dazu, am helllichten Tag mit Marie Krüger durch die Straßen zu gehen. Auch Holt fand sie etwas anrüchig, denn er war in strengem Kastengeist erzogen, aber die Anziehungskraft, die von ihr ausging, wirkte auf ihn so stark, dass sie alle Bedenken tilgte.

   "Sie sind noch nicht lange hier?" fragte sie freundlich. "Die anderen Oberschüler sind so affig und eingebildet."

   Die haben bloß Schiss, dich anzusprechen, dachte Holt. Er entgegnete: "Am vornehmsten tun die vom Bann, nicht wahr?" Sie überquerten den Mühlgraben und betraten die Anlagen am Fluss.

   Sie sah ihn von der Seite an. "Sind Sie nicht HJ-Führer?"

   "Ich? Nein, ich war Führer beim Jungvolk. Aber ich fall zu sehr auf. Jetzt bin ich Individualist. Die HJ macht mir nicht mehr viel Spaß. Früher, ja. Aber jetzt bin ich viel lieber allein. Nach den Ferien geht's sowieso zur Flak."

   Sie antwortete nicht.

   Ein kurzer, toter Flussarm mit dem irreführenden Namen Mühlgraben. bildete mit dem Fluss eine Halbinsel, die man Parkinsel nannte; sie zog sich oberhalb der Stadt einige Kilometer weit am rechten Ufer des Flusses hin. Inmitten von Parkanlagen hatte hier der Ruderklub "Wiking" sein Vereinshaus, nebenan lagen die Tennisplätze, die Eisbahn und die Badeanstalt. Weiter flussaufwärts endete der Park, und die Halbinsel ging in den "Schwarzbrunn" über, eine mehrere Quadratkilometer große, unwegsame und wilde Sumpflandschaft, ein Labyrinth verlandender toter oder mit dem Fluss verbundener Flussarme und schilfgesäumter Tümpel, eine morastige Niederung, die vom festen Ufer her nur im Sommer bei niedrigem Wasserstand zugängig war. Die Badeanstalt war ein großes Gelände mit einer Liegewiese, deren Böschung zum Wasser abfiel, wo das Floß verankert war, das auf leeren Öltanks schwamm, mit Bassins für Nichtschwimmer und Sprungturm. Am Ufer neben der Liegewiese zogen sich mehrere Reihen hölzerner Umkleidekabinen hin, die wegen der jährlichen Hochwasser wie Pfahlbauten auf hohen Balkenfundamenten ruhten.

   Holt, der von seiner Mutter ein reichliches Taschengeld bezog, hatte eine der teuren Jahreskabinen gemietet. Ungeduldig kleidete er sich um, fand das Mädchen am Ufer und setzte sich dort ins Gras. Zu dieser Tageszeit war die Badeanstalt menschenleer. Auf dem Floß im Schatten des Sprungturmes saß nur der alte Bademeister und angelte.

   Sie lag lang ausgestreckt im Gras. Sie trug einen roten, zweiteiligen Badeanzug. Ihr Körper war gleichmäßig braungebrannt, nur an der Brust, wo sich der Badeanzug ein wenig verschoben hatte, wurde ein Streifen weißer Haut sichtbar. Sie hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und hielt die Augen geschlossen. Holt hockte neben ihr. Er betrachtete sie. Der Anblick der schwarzen gekräuselten Haare in den Achselhöhlen, der entspannten schlanken Glieder beunruhigte ihn Er fand diesen braunen Leib, der sich im Gleichmaß der Atemzüge hob und senkte, seltsam zerbrechlich, er sah lange auf ihr Gesicht, auf ihren Mund, er dachte: Es schaut keiner her... ob sie sich wehrt, wenn ich sie küsse? Mag sie sich wehren... ich bin viel stärker!

   "Wie alt sind Sie?" fragte sie.

   "Siebzehn", log Holt, und er legte sich neben sie ins Gras. Nun, da er sie nicht mehr sah, fiel ihm das Reden leichter. "Als ich Scharlach hatte", sagte er, "da hab ich mal von Ihnen geträumt..." Er hörte sie lachen, das machte ihn unsicher. "Ich geh ins Wasser", sagte er schnell, "kommen Sie mit?"

   "Ich hab keine Badehaube. Ich verderb mir bloß die Haare... Es gibt keine zu kaufen. Ich gäb wer weiß was dafür."

   Er dachte nach. "Ich besorg Ihnen eine. Darf ich mir dann was wünschen?" Sie stützte sich auf die Ellenbogen und blickte zu ihm hin. Er brachte es fertig, ihr in die Augen zu sehen. "Ich bring Ihnen eine Badekappe, und Sie... zum Lohn... Sie müssen sich von mir küssen lassen..."

   Sie streckte sich wieder aus. Er drängte: "Ja oder nein?" Sie antwortete: "Nachher sagen Sie: Die lässt sich wegen einer lumpigen Bademütze küssen..." Er stand auf. "Da will ich verdammt sein, wenn ich so was auch nur denk! Ohne Badehaube lassen Sie sich doch erst recht nicht..." - "Fort!" rief sie lachend. "Los, geh ins Wasser, du!" Er lief die Böschung hinab, es war eine Flucht vor ihrem Du, vor ihrem unausgesprochenen Ja. Die Planken des Floßes dröhnten, er sprang aus dem Anlauf kopfüber in den Fluss. Als er auftauchte, sah er sie im Gras sitzen, und als er den Arm aus dem Wasser hob, winkte sie.

   Er schwamm zum anderen Ufer, kletterte auf den Damm und schaute noch einmal zurück. Das Mädchen war verschwunden. Er ging über die Wiesen zu einem dichten Weidengebüsch, dem vereinbarten Treffpunkt mit Wolzow.

   Er warf sich auf den weichen Boden und blickte in den wolkenlosen Sommerhimmel.

   Er erwachte, als Wolzows greller Pfiff vom Ufer herwehte. Wolzow setzte sich zu Holt. Er hatte in seinem Paddelboot Zigaretten und Streichhölzer mitgebracht. Holt fragte: "Was gibt´s Neues in der Penne?" - "Maaß hat die Lateinarbeit zurückgegeben. Hab eine glatte Fünf. Ich bleib wahrscheinlich sitzen." - "Wäre dir das gleichgültig?" Wolzow hob die Schultern. "Sitzenbleiben oder nicht, darauf kommt´s doch gar nicht mehr an... Wir rücken bald ein. Später werd ich mal im Ostraum siedeln, in der Ukraine oder so. Als Offizier unter Wehrbauern brauch ich kein Latein." Stimmt, dachte Holt. Beim Militär fragt kein Mensch mehr nach Zeugnissen... "Was Neues von der Flak?" - "Nein... Aber der Reichsjugendführer hat zum Ernteeinsatz aufgerufen." - "Das passt mir gar nicht", sagte Holt mürrisch. "Die solln uns in Ruh lassen. Wenn wir bloß bald zur Flak kämen! Ich will mich endlich richtig einsetzen. Ich hab eine wahnsinnige Wut auf diese Luftpiraten."

   Wolzow blinzelte faul in die Sonne. "Der Krieg geht ja erst richtig los", sagte er. "Ich hab keine Angst mehr, dass wir zu spät kommen. Weißt du schon, dass die Amerikaner auf Sizilien gelandet sind?" Holt war überrascht. "Nein... Ich hab ewig keinen Wehrmachtbericht gehört." - "Jedenfalls ist das ein Fortschritt", behauptete Wolzow. "Wie willst du den Gegner schlagen, wenn er sich nicht zum Kampf stellt? Wenn ich Feldherr wär, ich würde Entscheidungsschlachten suchen, wenn es die Lage nur einigermaßen erlaubt. Weißt du, wer mein Ideal ist? ich hab neulich von Marius gelesen. Mensch, das war ein Kerl!" Er richtete sich auf. "Wir können uns, glaub ich, ab August freiwillig melden. Kommst du mit zu den schnellen Truppen? Panzer sind die tollste Waffe." - "Ich komm mit", sagte Holt. "Panzer ist gut. Ich stell mir das herrlich vor, wenn man ins Feuer reinbraust, und ringsum trommeln die Granaten, und dann das Duell Panzer gegen Panzer... Du hast recht! Es gibt kein Abenteuer, nur den Krieg. Früher gab's Seeräuber, Banditen wie Karl Moor, die für Gerechtigkeit ihr Leben gaben."

   Eine Stunde lang lagen sie in der Sonne. "Das schönste ist natürlich Truppenführung", begann Wolzow von neuem. "Da stehst du am Kartentisch, die Mütze auf dem Kopf, und klopfst ganz lässig mit dem Rotstift auf die Karte. Hier... ein Stoß wird so angesetzt, und einer so... Dann gibst du Befehle. Dein Wort entscheidet die Schlacht."

   In der Badeanstalt herrschte Hochbetrieb. Die Marie Krüger, von ein paar Männern umgeben, saß auf der Wiese; Holt sah es von weitem mit einem brennenden Gefühl der Eifersucht. Sie banden das Boot fest und kletterten auf das Floß, von jüngeren Schülern respektvoll gegrüßt. Beim Sprungturm hatte sich ein Kreis von Jungen und Mädchen versammelt. Holt hörte die helle, freche Stimme Zemtzkis. Rutscher stotterte ihnen ein "A-a-ave Cäsar!" entgegen. Sie waren alle beisammen, Wiese, Vetter, Gomulka, auch Nadler mit ein paar seiner Untergebenen, Schenke, Hampel, Kieback und wie sie alle hießen... Dazu ein paar Mädchen: Rutschers Schwester Ilse, die schlanke Doris Wilke, "Putzi" genannt, und Friedel Küchler, die strohblonde Mädelgruppenführerin, Tochter des Landrats. Sie rief "Heil Hitler!". Holt setzte sich auf die Planken und beobachtete die Mädchen. Doris Wilke errötete bei Wolzows Anblick, sie war in den großen, finsteren Burschen verliebt, aber Wolzow merkte es nicht oder wollte es nicht merken. Es ging in Gegenwart der Mädchen recht förmlich zu. Nur Wolzow benahm sich nicht anders als sonst. "Ihr Mädel werdet immer zackiger, zum Piepen ist das", sagte er zu Friedel Küchler, während er sich niedersetzte. "Ich seh euch noch als richtige Mannweiber." - "Solche Flintenweiber",, sagte Vetter, "haste die neulich in der Wochenschau gesehn?" Friedel Küchler wies Wolzow zurecht: "Das ist ganz falsch!" Sie konnte wohltönend reden, sie hatte sogar schon einmal bei einer Morgenfeier der Hitlerjugend im Rundfunk gesprochen. "Sieh dir mal 'Glaube und Schönheit' an, ihr gemessenes Schreiten hinter den Wimpeln, oder den heroisch ernsten Aufmarsch zu Spiel und Tanz... Niemand wird aus dem lebensfrohen Getümmel eine Vermännlichung fürchten... Unsere Mädel werden biologisch bessere und sittlich keine schlechteren Mütter sein als die Mütter früherer Generationen." - "Alles Quatsch", sagte Wolzow ungerührt. "Du redest doch immer von den Germanen! Bei den Germanen hatten die Weiber das Maul zu halten und Kinder zu kriegen!"

   Holt fühlte sich nicht recht wohl in diesem Kreis. Er fand diese gleichaltrigen Mädchen, Schülerinnen der Mädchenoberschule, albern, so hübsch sie anzusehen waren in ihren knappen Badeanzügen. Jemand sprach ihn an: "Wir hörten gerade deinen berühmten Schachtelsatz." Peter Wiese hatte den Satz rekonstruiert und aufgeschrieben. "Der Maaß", sagte Gomulka, "verwindet das nie! Er hat keine Freude mehr an Schachtelsätzen!" - "Dafür ist er noch gemeiner geworden", schimpfte Vetter, der dick und rosig auf den Brettern saß. "Zu mir hat er gestern gesagt: 'Woher stammt eigentlich Ihre Blödheit? Vom Vater nicht, den kenne ich, wahrscheinlich haben Sie eine saudumme Mutter!' Muss ich mir so was gefallen lassen?" - "Ei, seht doch mal, wer da kommt!" piepste Zemtzki.

   Alle wandten die Köpfe. Ãœber das Floß ging Marie Krüger, mit wildem Haar, am Sprungturm vorbei. Zemtzki sagte, so dass sie es hören musste: "Die ist eine stadtbekannte... " - "Halt den Mund!" rief Holt. Zemtzki verstummte.

   Das Mädchen war an der Treppe stehen geblieben und sah zu ihm hin, dann ging sie rasch davon. Friedel Küchler sagte spitz: "Die nimmst du in Schutz? Bist du etwa in die verliebt?" Holt war turmhoch überlegen. Er stand auf. "Komm, Gilbert... Mir gefällt´s nicht mehr. Die dumme Pute will stänkern."

   Sie gingen über die Treppe ans Ufer.

   Die Wolzowsche Villa lag über den alten, baufälligen Fachwerkhäusern auf einem Hügel. Ein großer, verwilderter Garten umgab das Haus; von der Mauer blickte man auf die roten Schindeldächer und in die engen Gassen der Altstadt hinab.

   Das Haus war verwahrlost. In der dunklen Halle hingen ein paar verstaubte Ahnenbilder an den Wänden. In dem offenen Kamin häufte sich Unrat und Asche. Die Fenster, seit langem nicht mehr geputzt, ließen trübes Licht in den großen Raum. Eine Treppe mit geschnitztem Geländer führte in das Obergeschoß. Hier bewohnte Frau Wolzow mit ihrem Sohn In paar Zimmer. Das Erdgeschoß blieb leer und verfiel.

   Wolzows Zimmer glich einer Rumpelkammer. An den Wänden hingen Armbrüste, exotische Waffen, Bogen und gefiederte Pfeile, indianische Streitäxte, Blasrohre und ein Paar altertümliche Duellpistolen. Vor dem Fenster stand ein großer Eichentisch, von Retorten und Flaschen, Gläsern und verrosteten Büchsen bedeckt. Ein Totenschädel lag herum, aus dem Beinhaus des Kirchhofs gestohlen, ein ramponiertes, ausgestopftes Rebhuhn, das als Zielscheibe diente, Papiere und Bücher. Auf einem Haufen Unrat in der Ecke lagen obenauf zwei Schläger, ein krummer Türkensäbel, ein Tellereisen und ein verschmutzter Schaftstiefel. Eine Fechtmaske und allerhand Kleidungsstücke waren auf dem Boden verstreut, und das eiserne Feldbett bedeckte ein zottiges braunes Bärenfell.

   Holt saß auf dem Fell, die Füße auf einen herangeschobenen Stuhl gelegt. Er fühlte sich wohl hier. Wolzow experimentierte an dem großen Eichentisch; unter einer Retorte brannte eine Spiritusflamme. Draußen sank die Dämmerung. "Wenn das klappt mit der Salpetersäure, dann mach ich Dynamit." - "Was willst du mit Dynamit?" - "Bomben bauen, richtige Bomben, nicht solche Knalldinger aus Schwarzpulver!"

   Was will er mit Bomben? dachte Holt... Dem Maaß eine unters Katheder legen? Er lachte. Aus der Retorte stiegen beizende Dämpfe. Wolzow öffnete das Fenster. Das Geläut der Kirchenglocken erfüllte den Raum... Wolzow baut Bomben, und die Glocken läuten dazu!

   "Stell dir vor", sagte Wolzow, "du legst eine Dynamitbombe an die Penne, Mensch, da bleibt kein Stein auf dem anderen!" Es war eine Vorstellung, die ihn begeisterte. "Dem Maaß eine Bombe an den Arsch binden..."

   Holt rauchte und sah sich die Bücher an, die herumlagen, kriegswissenschaftliche und -geschichtliche Werke, Verdy du Vernois: "Studien über Truppenführung", Rüstow: "Geschichte der Infanterie", Prinz Kraft zu Hohenlohe: "Militärische Briefe über Artillerie", und nun sah Holt auch das dicke Taschenbuch liegen. Er nahm den flexiblen Lederband zur Hand und studierte den Titel: "Lutz von Wulfingen, Generalleutnant und Lehrer an der königlich preußischen Kriegsakademie, 'Taschenbuch der Kriegsgeschichte in Stichworten mit strategischen und taktischen Anmerkungen und einem chronologischen Verzeichnis aller Schlachten, Gefechte und Scharmützel der Weltgeschichte samt der daran beteiligten Truppen und ihrer Führer', mit 212 Skizzen versehen und völlig neu bearbeitet von Otto Graf Ottern zu Ottbach, Major a. D., zweite Auflage 1911." Holt durchblätterte die dünnen Seiten, "Taginae" war rot unterstrichen, "Stümperei Totilas, Narses ganz groß", stand am Rand; und hier bei "Miltiades bei Marathon" las Holt von Wolzows Hand: "Eine Cannae vor Cannae?"

   Er legte das Buch aus der Hand. Was er jetzt unter dem Wust hervorzog, war Goethes "Faust". "Liest du den 'Faust'?" fragte er erstaunt. Wolzow antwortete: "Ich hab gehört, da soll ein Soldat mitspielen, ich hab mir das angesehn: militärisch ist es uninteressant." Er löschte den Spiritusbrenner und schob die Retorte zur Seite. Es war dunkel im Zimmer, er schaltete Licht ein. Holt hatte das Buch aufgeschlagen und las: "Zueignung"... Er überflog die Verse und las noch einmal: "... was ich besitze, seh ich wie im Weiten, und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten..." Das ist wunderbar... Er fragte unvermittelt: "Denkst du eigentlich gern an die Zeit, als du ein Kind warst?" - "Wozu?" sagte Wolzow. "Nein. Du? Warum lebst du eigentlich nicht bei deinen Eltern?"

   "Meine Eltern sind geschieden", antwortete Holt unlustig. "Mein Vater ist weggegangen, und bei meiner Mutter, na, ich hab's nicht ausgehalten, ich weiß auch nicht, warum. Sie ist so... steif, gar nicht wie eine Mutter. Großzügig war sie ja, in allem, wir hatten da eine Sportschule, sie hat mir einen Trainer für Jiu-Jitsu bezahlt und alles mögliche... Aber sonst... Und meine Tante aus Hamburg ist noch schlimmer, wie ein Eisklumpen, die hat nun dauernd bei uns gesessen, mir hat diese Weiberwirtschaft einfach nicht gepasst. Dauernd gab's Krach." - "Und warum bist du nicht bei deinem Vater?" - Er hat kein Sorgerecht, und Mutter lässt mich von der Polizei wegholen, wenn ich hingeh. Mein Vater ist Bakteriologe, weißt du, so wie Robert Koch... Er war Hochschulprofessor und dann in der Industrie. Er hat immer nur seine Arbeit im Kopf, das heißt, zu mir war er ja ganz nett... Aber Mutter sagt, er ist ein Menschenfeind und ganz weltfremd." Er schwieg, es gab noch mehr zu sagen, aber eigentlich ging das niemanden etwas an, auch Wolzow nicht. "Und schließlich hat mich meine Mutter fortgelassen, jetzt bin ich eben hier." - "Ein Glück", entgegnete Wolzow, "sonst wär ich jetzt relegiert." Dass Holt ihn erst soweit getrieben hatte, übersah er. "Ãœbrigens", brummte er, "das wollte ich dir noch sagen: Dass du mich rausgerissen hast, ich vergess dir das nie Wenn du mich jemals um etwas bittest", sagte er mit einer mürrischen Feierlichkeit, "so erinner mich an diese Stunde, und ich will ein Lump genannt werden, wenn ich nicht alles für dich tu..." Holt sagte schnell; "Wenn wir zusammen in den Krieg kommen, dann wollen wir zusammenhalten wie... Hagen und Volker. Es ist gut, wenn man im Krieg einen Freund hat." Wolzow knurrte etwas Unverständliches. Er nahm den Krummsäbel und hieb auf den Totenschädel, der krachend in Stücke sprang. Dann warf er den Säbel in die Ecke. "Zwei alte Krieger wie uns, die trennt nur der Tod!"

3

   Die Badehaube bereitete Holt Kopfzerbrechen genug. Schließlich erinnerte er sich, dass Veronika Dengelmann angeblich noch vor zwei Jahren regelmäßig geschwommen sei... Am anderen Morgen, beim Frühstück, fingen die Schwestern wieder von Herrn Wenzel an. Holt erwiderte auf alle Bitten hinterhältig: "Nein. Sie würden mir ja auch keinen Gefallen tun" - "Aber natürlich! Jeden Gefallen würden wir..." - "So? Dann geben Sie mir Ihre Badehaube."

   "Meine Badehaube?" Sie kam sich veralbert vor. Er stand schon auf. Sie rief: "Gewiss... Gewiss doch!" Wie schön das geklappt hat, dachte er. Eh dieser Knabe einzieht, bin ich bei der Flak.

   Veronika brachte die Kappe. "Was wollen Sie bloß damit?" - "Also meinetwegen, schreiben Sie Ihrem Herrn Wenzel, ich bin einverstanden." Eulalia atmete auf. Aber Veronika fand keine Ruhe: "Was wollen Sie um Gottes willen mit meiner Badehaube - "Eine Geranie werd ich hineinpflanzen", sagte Holt. Er lief zur Badeanstalt.

   Er saß in seiner Kabine und wartete, krank vor Aufregung, bis er die Marie Krüger im Badeanzug über die Liegewiese gehen sah. Er versteckte die Badekappe hinter dem Rücken. Sie gab ihm freundlich die Hand. "Heut müssen Sie mit mir schwimmen", sagte er und hielt ihr die Badehaube hin.

   Sie nahm ihm zerstreut die bunte Mütze aus der Hand. Dann stopfte sie das Haar unter den Gummi und sagte endlich: "Ich muss mich im Spiegel sehn." Er folgte ihr über die Wiese. Schweigend ging sie voran, die hölzerne Treppe hinauf und dann den Gang zwischen den Kabinenreihen entlang. Sie bückte sich nach dem Schlüssel, der irgendwo versteckt war, und stieß die Tür weit auf. Dann trat sie in den kleinen Raum. Holt lehnte sich an den Türpfosten.

   Sie stand vor dem Spiegel und setzte die Mütze auf, wortlos, mit flinken Bewegungen, setzte sie wieder ab und hockte sich quer auf die kleine Bank, hob die Füße auf den Sitz, zog die Beine dicht an den Körper und schlang die Arme um die Knie. Sie sah ihn an, seitlich an die Kabinenwand gelehnt, zusammengerollt wie eine Katze. Zwischen den engen Wänden herrschte ein dämmriges Halbdunkel; ein Lichtstrahl zauberte ein paar spitze Lichter in ihre Pupillen.

   Holt hatte Angst. Aber der Gedanke, er könne sich lächerlich machen, trieb ihn doch den einen Schritt zu ihr hin. Er beugte sich hinab und küsste sie flüchtig auf die Lippen, die sie ihm entgegenhob. Dann richtete er sich auf, enttäuscht: die Bücher, die Träume hatten gelogen!

   Sie lachte. Ihre Zähne blitzten. Sie stand auf und trat ganz dicht an ihn heran; sie schlang beide Arme um seinen Hals und küsste ihn. Er erwachte, er fasste mit beiden Händen ihre Schultern. Sie löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück, her er zog sie aufs neue an sich; er zwang ihr rasch die Arme auf den Rücken, er strich über ihre Schulter, ihren nackten Arm, er suchte ihre Brust. "Du tust mir weh", sagte sie leise... Erst als auf dem Gang Schritte laut wurden, gab er sie frei. Die Schritte verloren sich. Sie trat aus der Kabine.

   Er ging an ihrer Seite zum Ufer zurück, dann schwamm er mit ruhigen Stößen in den Fluss hinaus. Erst weit draußen, als er sich auf den Rücken warf, sah er, dass sie ihm folgte.

   Am anderen Ufer liefen sie stromaufwärts, zu einem Wäldchen von Erlen und Weiden. Hier wucherte zwischen hohem Riedgras der Löwenzahn. Von einem Tümpel stieg schreiend ein Schwarm Wildenten auf. Sie lagen lange Zeit in der Sonne.

   "Ich habe in letzter Zeit viel an dich gedacht", sagte er. "Wir beide bleiben immer beisammen!"

   "Ach du...", sagte sie gedehnt, "schlag dir so was aus dem Sinn. Außerdem geh ich in ein paar Tagen zum Arbeitsdienst." Sie richtete sich auf. "Vielleicht meinst du's wirklich so", sagte sie sanfter, "aber... das werd ich mir nie einbilden, dass so einer wie du's ernst meint..."

   Bei diesen Worten fiel ihm eine Episode aus seiner Kindheit ein.

   Sie hatten in Leverkusen eine Villa am Rande der Stadt bewohnt. Im Kellergeschoss hauste die Portiersfamilie. Holt war vier oder fünf Jahre alt, und einmal entlief er der ewigen Aufsicht des Kindermädchens und spielte mit der gleichaltrigen Tochter des Portiers, die ihn schließlich mit zu sich in die Kellerwohnung nahm. Er saß in der dunklen Küche am Tisch und spielte im Kreis der Familie "Schwarzer Peter", bis ihn das verärgerte Kindermädchen fand. Oben musste er baden und die Wäsche wechseln. Die Episode wäre wohl kaum in seinem Gedächtnis haften geblieben, aber am Abend ließ ihn ein Zufall mit anhören, wie seine Mutter voll Sorge zu seinem Vater sagte: "Wo hat er das her... diesen Hang zum Niederen?"

   Bei dieser Erinnerung überkam ihn die Lust, die ganze Welt herauszufordern. "Und... wenn ich dich in unseren Kreis einführe, gleich heut? Wenn ich dich meinen Freunden vorstell? Soll einer ein Wort gegen dich sagen! Gilbert und ich, wir prügeln jeden windelweich!"

   Sie lächelte flüchtig. "Jeden?... Kennst du den Meißner?"

   Meißner war seit seinem Notabitur hauptamtlicher HJ-Führer, neunzehnjährig, einer der wenigen seines Jahrgangs, der nicht schon seit langem im Wehrdienst stand, ein enger Freund des Bannführers, SS-Freiwilliger und Führer des HJ-Streifendienstes. "In ein paar Wochen wird er zur SS einrücken", antwortete Holt, verwundert über den Gedankensprung, den ihre Frage verraten hatte. Sie sah ihn aus halbgeschlossenen Augen an. "Und... kennst du die Ruth Wagner?" Er erinnerte sich schwach. Da hatte es vor Wochen ein Gerücht gegeben, ein unklares Gerücht von einem tödlichen Unfall. "Was ist mit Ihr?"

   Sie redete leise, den Kopf gesenkt, aber die dunklen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. "Sie war Verkäuferin. Der Meißner hat sich an sie rangemacht. Das dumme Ding hat sich in ihn verliebt und hat sich alles gefallen lassen, obwohl so einer es mit uns ja gar nicht ernst meint... Aber er hat ihr sonst was vorgeredet und dass es noch Geheimnis bleiben muss. Dann hat er sie plötzlich abschieben wollen, da war sie schon in anderen Umständen. Er hat gesagt, es ist Schluss. Er hat ihr Geld gegeben, dass sie's wegbringen lassen kann, aber wenn sie erzählt, dass er´s gewesen ist, dann passiert was. Da ist sie zu mir gekommen. Sie war ganz verzweifelt. Und denselben Abend ist sie in den Schnellzug gestiegen. Am anderen Tag ist Ihr Vater bei mir gewesen, ob ich weiß, warum sie weggefahren ist. Ich hab natürlich von nichts gewusst. Dann haben sie die Ruth gefunden, sie hat sich aus dem fahrenden Zug gestürzt, grad als der Gegenzug kam. Es heißt, es war ein Unglücksfall. Dann hat der Vater einen Brief von ihr bekommen, den sie unterwegs aufgegeben hat, und er ist zum Bann gelaufen und hat Krach gemacht. Sie haben ihn dort festgehalten, und unterdessen ist der Meißner ganz aufgeregt zu Kretschmar gelaufen, was der Chef vom SD ist. Ruths Vater ist nicht wieder nach Hause gekommen, und niemand weiß, wo er jetzt ist."

   Er sah vor sich hin.

   Sie neigte sich zur Seite, sie brachte den Mund dicht an sein Ohr. "Siehst du, deshalb bin ich misstrauisch bei einem wie dir." Sie sprang auf. "Aber mach dir nichts draus, bald bin ich nicht mehr hier."

   Er war auf einmal allein. Er glaubte kein Wort, und er glaubte doch alles. Er war entsetzt und zugleich traurig, er fühlte eine Erbitterung in sich, die in Zorn umschlug, in Zorn gegen Meißner. Er lag noch lange im Gras und dachte nach. Dann beschloss er, mit Wolzow zu reden.

   "Ich muss dir was erzählen", sagte Holt, als Wolzow ihm öffnete. Dann horchte er auf. Durch die Wände drang ein seltsamer Laut, langgezogen wie das Heulen eines Hundes. "Meine Mutter", sagte Wolzow. "Seit zwei Jahren immer dasselbe Theater, seit mein Vater an der Ostfront steht... Und so was nennt sich Offiziersfrau! Sie war schon mal im Irrenhaus, aber denkst du, sie haben ihr das Gejammer abgewöhnt?" Er bot Zigaretten an. "Hör nicht drauf, du gewöhnst dich dran. Erzähl."

   "Kennst du die Ruth Wagner?" - "Hm", machte Wolzow. "Eine undurchsichtige Geschichte." Er zeigte sich wenig interessiert.

   Holt erzählte. Er fragte anschließend: "Glaubst du das?"

   "Warum denn nicht? Voriges Jahr ist auch so was passiert. Da sind ein paar Kerle vom Bann eingerückt, die haben Abschied gefeiert. Als sie besoffen waren, haben sie das erste beste Mädel von der Straße hochgelockt, haben sie nackt ausgezogen und dann der Reihe nach... na, verstehst schon. Das haben sie Äquatortaufe genannt, weil sie Marinefreiwillige waren, ganz originell, was? Das Mädel war erst fünfzehn. Der Vater wollte Krach schlagen, aber der Bannführer hat seine Leute gedeckt. Wenn er nicht Ruhe gibt, haben sie dem Vater gesagt, dann ist seine u.-k.-Stellung hin... Da hat dieser Zivilist aus Angst vor der Front gekuscht, und so wurde die ganze Sache totgeschwiegen. Das mit dem Meißner kann schon stimmen."

   "Und... wie stehst du dazu?" rief Holt.

   "Das geht mich nichts an", erwiderte Wolzow mürrisch. Aber Holt ließ nicht nach. "Geht dich nichts an? Mich auch nicht. Aber unsereins ist ja schließlich nicht irgendwer! Ist dir´s wirklich egal, was dieser Meißner angerichtet hat?" - "Reg dich nicht auf", meinte Wolzow beschwichtigend. Aber Holt rief: "haben wir eine Ehre im Leibe? Ja? Dann muss man... zur Polizei gehn..."

   Wolzow tippte mit dem Finger an die Stirn. "Polizei? Die werden sagen, das ist Hetze gegen die Partei."

   Holt saß eine Weile erschrocken auf dem Bett. Dann sagte er trotzig: "Aber es geht um... Gerechtigkeit! Wir müssen auf eigene Faust Gerechtigkeit üben, wie Karl Moor: 'Mein Handwerk ist Wiedervergeltung.' Wir werden die Ruth Wagner an Meißner rächen." - "Das Weibsbild ist mir egal", erwiderte Wolzow. Er ging plötzlich im Zimmer auf und ab. "Der Meißner..." sagte er dann, "das sind zwar alte Geschichten, aber immerhin: der hat mir damals meine Karriere als HJ-Führer versaut, da darf ich gar nicht dran denken... Also gut, ich überleg mir das."

4

   Holt nahm die letzten Tage vor den Ferien wieder am Unterricht teil. Die Mitschüler begrüßten ihn jubelnd, aber Wolzow fehlte. Das vergällte Holt den Tag. Er war überdies unruhig, weil es ihm nicht gelungen war, die Marie Krüger noch einmal wiederzusehen. Auf dem Stundenplan stand heute: Mathematik, Physik, Biologie und zwei Stunden Leibesübungen. Glaser hielt auf dem Korridor Wache. Zemtzki rief: "Ich bin bei Benedict mit dem Vorspruch dran!" Benedict verlangte vor jeder Turnstunde eine Art Losung, die mit den Worten zu enden hatte: "Darum... Sport frei!" Zemtzki piepste; "Wenn ich 'Darum' gesagt hab, und das linke Auge zukneif, dann brüllt ihr alle: '... esst Pellkartoffeln!' Wir probieren!" Er stand auf dem Podium und rief: "Trotz guter Kartoffelernte bleibt Sparsamkeit oberstes Gebot! Darum..." - "... esst Pellkartoffeln!" Holt hatte gleich nach seinem Eintritt in die Klasse Wilhelm Busch zitiert: "Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör, darum... Sport frei!" Seither war die einstmals ernst gemeinte Sitte zu einer Quelle ständigen Unfugs geworden.

   Mathematik bei Schöner: Der dicke Vetter holte seine Spielkarten hervor, mischte und teilte aus.

   Die nächste Stunde war interessanter: Physik bei Gruber. Man begab sich ins Physikzimmer.

   Gruber stand am Experimentiertisch und baute eine lnfluenzmaschine auf. Man brüllte ihm den Hitlergruß entgegen, denn das kleine, kugelrunde Männlein, weit über sechzig Jahre alt, war schwerhörig, fast taub. Er kleidete sich stets in grünes Loden und beteuerte immer wieder: "Ich höre famos! Ich höre fabelhaft und ziehe die Konsequenz!" Er beobachtete die Gesichter seiner Schüler argwöhnisch und strafte, wenn er jemanden auch nur die Lippen bewegen sah. Man hatte folglich gelernt, mit geschlossenem Mund die erschütterndsten Laute hervorzubringen.

   Der Unterricht begann vor einer Kulisse von Urgeräuschen. Holt hatte keinen Spaß daran. Er las, das Buch unter der Bank versteckt. "Holt, nach vorn!" befahl Gruber. Er sprach sehr leise. Holt überhörte die Aufforderung, aber die Mitschüler heulten: "Holt... nach vorn!"

   Er erhob sich und sagte: "Ich hab sechs Wochen gefehlt!" Gruber verstand falsch. "Nein, Ihre Aufzeichnungen brauchen Sie nicht mitzubringen." Holt wiederholte: "Ich hab gefehlt!" - "Nun ja, eben deshalb", beharrte Gruber. Und da geschah es, dass Holt zurückbrüllte: "Ich habe aber keine Lust." Dann setzte er sich und zeigte ein abweisendes, gleichgültiges Gesicht.

   Die Klasse jubelte, verstummte aber, als Gruber den Mund zur Antwort öffnete. Der kleine Lehrer in seinem grünen Loden rang nach Luft, dann rief er empört: "Ich hörte es famos! Keine Lust! Ich strafe es durch einen Tadel, ich protokolliere es im Klassenbuch." Gruber schraubte den Füllhalter auf. Da erhob sich Zemtzki und rief mehrmals hastig: "Herr Lehrer... Herr Lehrer! Ich! Ich!" Er lief nach vorn zu Gruber, der ihm bereitwillig das Ohr hinhielt. "Sie dürfen ihn nicht bestrafen! Bitte, er war krank! Er hatte Gehirnscharlach! Der Arzt hat gesagt, noch lange Zeit setzt ihm der Verstand aus... Bitte... er kann nichts dafür!" Gruber stand unschlüssig. Aus der Klasse kam das Echo: "Ja! Er spinnt! Er kann nichts dafür!" - "Er ist zeitweilig blöd", flehte Zemtzki, "Sie dürfen ihn nicht bestrafen!"

   Holt war damit nicht einverstanden und erhob sich. "Das ist nicht wahr! Ich bin völlig normal!" Aber gerade diese Bemerkung schien Gruber vom Gegenteil zu überzeugen; auch mochte Ihm ein kranker Schüler sympathischer als ein aufsässiger sein. Also schraubte er den Füllhalter wieder zu. "Mit Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand sehe ich von der Protokollierung des Tadels ab." Er fügte hinzu: "Schonen Sie Ihr Gehirn!", was Ihm stürmischen Beifall eintrug.

   Holt hatte keine Freude an Zemtzkis Streich. Wie mir das alles zum Halse heraushängt! dachte er. Der Gedanke an Wolzow ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

   Vor dem Portal der hohen Gartenmauer parkten ein paar Kraftwagen. Sollte Wolzows Vater auf Urlaub gekommen sein? Er betrachtete neugierig die Militärfahrzeuge, zwei offene Kübelwagen mit aufmontierten Maschinengewehren, mehrere Motorradgespanne und eine große Limousine. Soldaten bockten in den Fahrzeugen, mit Helmen, Karabinern, viel Gepäck und dreckverkrusteten Stiefeln. Sie sahen müde und überanstrengt aus, als hätten sie eine strapaziöse Fahrt hinter sich.

   In der Halle standen ein paar Koffer herum. In einem Sessel schnarchte ein Unteroffizier, die schmutzigen Stiefel auf dem Teppich. Wolzows Zimmer war leer. Holt rief durch die Korridore, setzte sich auf das Bett und wartete.

   Wolzows Augen waren klein vor Müdigkeit. "Mein Vater ist gefallen. Onkel Hans ist heute Nacht gekommen, direkt aus Russland, durch Ungarn. Er ist nach Berlin kommandiert...Lass nur", fügte er hinzu, "ist ja alles egal. Soldat ist Soldat. Bloß meine Mutter... Onkel Hans bringt sie in die Nervenklinik. So was will Offiziersfrau sein! Komm! Ich stell dich Onkel Hans vor."

   Er schob Holt in ein großes, düsteres Zimmer. Auf der Couch am Fenster lag die hagere Gestalt des Generalmajors Wolzow. Er trug keinen Waffenrock, hatte die Ärmel hochgekrempelt, und seine Stiefel lagen auf dem Teppich. Auf einem Rauchtisch standen mehrere Rotwein- und Kognakflaschen, dazwischen Zigarettenpackungen, eine halbgeleerte Zigarrenkiste. Der General richtete sich ein wenig auf. "Aha!" sagte er. Dann ließ er sich wieder auf die Couch fallen. Wolzow bot Holt einen Stuhl an, schenkte Kognak ein und erzählte "Vater hat noch die Offensive im Kursker Bogen mitgemacht, hast ja im Wehrmachtbericht gehört, dass da was los war..." - "Hab gelesen", sagte Holt, ein wenig befangen in der Nähe des Generals, "jetzt greifen die Russen bei Orel an, es wird eine riesige Materialschlacht." Der General richtete sich auf und nahm ein Kognakglas in die Hand. "Gilberts Freund? Freut mich. Auf Philipps Gedächtnis! Also Prost!" Er trank, er hatte leise gesprochen, mit einer hellen und ätzenden Stimme; jetzt sagte er, während er sich wieder auf die Couch fallen ließ: "Knoth!" Wolzow riss die Tür auf und schrie: "Unteroffizier Knoth!" Holt atmete hastig, der Kognak brannte in seiner Kehle.

   Schritte polterten die Treppe hoch, eine Gestalt in Feldgrau rief an der Tür: "Herr General?" Es war der Unteroffizier, der in der Halle geschlafen hatte. "Spritfrage regeln", sagte der General, die linke Hand flach auf der Stirn. Dann stützte er sich auf die Ellenbogen. "Ich kann mich nicht erinnern, wo Schreyer hingekommen ist."

   Wolzow flüsterte: "Sie haben heut Nacht gesoffen wie die Stinte!"

   "Der Herr Oberleutnant ist heute morgen zu seiner Frau vorausgefahren", sagte der Unteroffizier. - "Richtig!" sagte der General. "Ich erinnere mich... Wenzke muss mich jetzt schnell noch wo hinfahren. Weiterfahrt sechzehn Uhr. Ab!" Der Unteroffizier polterte die Treppe hinab. Unter dem geöffneten Fenster wurde Motorengeräusch laut und entfernte sich. Nebenan schlug eine Tür. Wieder klang das klagende Geheul durchs Haus. "Richtig!" sagte der General abermals. Er erhob sich ächzend, fuhr in den blauen Luftwaffenrock und ließ sich von den Jungen die Stiefel anziehen.

"Ich bringe jetzt Sibylle weg. Elektroschocks sollen das einzige sein." Wolzow schnob durch die Nase. "Bei der hilft nichts mehr. Die sollten sie am besten gleich drinbehalten." Der General murmelte etwas vor sich hin. Er war so groß wie sein Neffe, hatte die gleiche Adlernase und die gleichen grauen Augen unter buschigen Brauen. Er stand fertig angekleidet im Zimmer und presste beide Handflächen gegen die Schläfen. "Verdammter Kognak! Verdammtes Gesaufe!" Er sah seinen Neffen nachdenklich an und fragte plötzlich: "Sorgen?"

   "Mit der Schule", sagte Wolzow. "Ich bleib vielleicht sitzen." - "Dumm oder faul?" fragte der General. "Natürlich faul", entgegnete Wolzow. "Wir rücken noch dieses Jahr ein... Erst mal zur Flak." Der General begann zu lachen, nahm die Flasche und füllte die Gläser. "Prost! Mach dir nichts draus!"

   Draußen klappten Türen, und die ätzende Stimme wurde vom Klagegeheul Frau Wolzows übertönt. Wolzow schenkte Rotwein ein.

   Betäubt und angeregt lief Holt nach Hause. Am Himmel zogen Wolken auf. Als es dunkelte, flammte hinter den Bergen fernes Wetterleuchten. Holt stand am Fenster. Er dachte an den Augenblick in der Badekabine.

   Am anderen Morgen fehlte Wolzow noch immer. Maaß verlas eine Anordnung: "Die Klassen III bis VI werden für drei Wochen zur Erntehilfe eingesetzt. Abreise am 21. Juli... gez. Knopf, Bannführer, Mietzsch, Oberstudiendirektor." - "Schon drei Tage nach Ferienbeginn!" murrte Gomulka.

   Nach Schulschluss fand Holt die Wolzowsche Villa verschlossen. Enttäuscht machte er sich auf den Heimweg. Aus dem Fenster des Wieseschen Hauses schaute der blasse Peter und rief ihn hinein. In dem großen, hellen Salon stand der Flügel. Peter Wiese sprach leise und nachdenklich. Er setzte sich bald an den Flügel und spielte.

   Wieses Spiel stimmte Holt meist ein wenig melancholisch. "Man muss etwas Formenlehre beherrschen...", erklärte Wiese. "Die Sätze zeigen dann ihre Architektur. Ohne Formenkenntnis gibt es kein richtiges Musikverständnis." Er schlug ein paar Takte an. "Beethoven, Sonate Opus zwei Nummer eins, ein Schulbeispiel! Der Hauptsatz: viertaktiger Vordersatz, und jetzt... vier Takte Nachsatz. Ich wiederhole noch mal. Dritter und vierter Takt sind die Wiederholung der Takte eins und zwei in der Dominante." Er spielte. "Siebenter und achter Takt... Kadenz, ein Halbschluss... damit ist der Hauptsatz beendet..." Wiese erklärte den ersten Satz Takt für Takt. "Ãœberleitung. Seitensatz." Er spielte. "Schlussgruppe. Das ganze bis hierher nennt man auch Exposition. Und nun folgt die Durchführung." Das Nacheinander der Töne wurde durchsichtig. "ist jedes Musikstück so streng aufgebaut?" fragte Holt. Wiese holte weit aus. "Die Form zerfällt... Nur wenige Prinzipien werden noch beibehalten, zum Beispiel Achttaktigkeit..." - "Was ist eigentlich das Schwerste auf dem Klavier?" fragte Holt.

   Wiese überlegte. "Klavierauszüge von Richard Strauß... Aber es ist nicht schlimm, wenn man danebengreift, Strauß klingt sowieso immer ein bisschen falsch." Er kramte lange in den Noten. Holt horchte auf.

   Das hab ich noch nie gehört, dachte er. Wiese rief stockend, während er sich abmühte: "In der Partitur klingt es natürlich ganz anders. - Hier, das soll ein Glockenspiel sein... oder Triangel." Kling-ling-ling, klimperte er im Diskant. Die Flut der Töne, dissonant und erregend, dann wieder harmonisch, verwirrte Holt. "Ãœberreichung der silbernen Rose", rief Peter Wiese, "da musst du dir zwei Frauenstimmen vorstellen..

   Ich hab viel erlebt in den letzten Wochen, dachte Holt. Noch kurze Zeit, dann ist alles vorbei, der Sommer, die Stunden hier bei Wiese, die Nachmittage am Fluss. Dann beginnt das große, das abenteuerliche Leben, der Krieg, die von gewaltigen Schicksalsmächten geforderte Bewährungsprobe! "Spiel weiter", bat er, "mir gefällt das..." Keiner weiß, wo wir hingeraten, dachte er. Hier ist ja nirgendwo Flak, vielleicht werden wir an einem Brennpunkt eingesetzt! Das ruhige Leben ist eine Schande in dieser Zeit! Da hab ich die letzten beiden Jahre mit meiner Mutter in Bamberg gesessen, auch dort waren Bombennächte nur eine Sage; dann und wann Alarm, was ist das, wo andere, kaum ältere, schon an der Kanone stehen? "Selbsthilfe gegen Feuer und Tod", hatte er gestern in der Zeitung gelesen, und "Ein Wort zum Luftkrieg" von Reichsminister Doktor Goebbels.

   Denn es ist die Pflicht eines jeden, mutig, ruhig und vorbereitet zu sein, hatte da gestanden... Weil die Wirklichkeit des Bombenkrieges jeden Brief, jeden Bericht und jedes Vorstellungsvermögen übersteigt... Ein brennendes Haus, ein verschütteter Keller darf keine neue und überraschende, nur eine hundertmal durchdachte und längst erwartete Lage schaffen... Durch die hohe Glaswand des Wintergartens fiel mildes Sonnenlicht. Wiese spielte: Kling-ling-ling... Keller, Fluchtwege ins Freie, Mauerdurchbrüche, wassergetränkte Decken, Gasmaske, Kerzen und Streichhölzer, im Keller Trinkwasser und reichlich Mundvorrat, derbe Kleider, Phosphorspritzer, Mut und Fähigkeit zur Selbsthilfe. Nicht verzagen! Zähne zusammenbeißen!

   "Die Sänger-Arie", sagte Wiese und sang mit kindlicher Altstimme: "Di ri-go-o-riiii ..." Gewiss, der Luftterror nimmt in diesen Wochen immer mehr zu. Aber der Doktor Goebbels sagt: Was die Engländer durchgestanden haben und wofür sie mancher von uns bewunderte, das müssen wir jetzt durchstehen! Wie sich für die Briten auf dem Gebiet des Luftkrieges das Blattgewendet hat, so wird es sich wieder für uns wenden. Die Engländer haben zwei Jahre darauf gewartet, unsere Wartezeit wird nur einen geringen Bruchteil der englischen Wartezeit ausmachen. Es soll niemand glauben, dass der Führer dem Wüten des feindlichen Terrors untätig zuschaue. Wenn wir über unsere Maßnahmen dagegen nicht reden, so ist das nur der Beweis... Ja, dachte Holt, der beste Beweis!... dafür, dass wir um so mehr daran arbeiten. Die Zeit ist groß und erhaben und beschwört die Erinnerung an die besten Jahre des friderizianischen Zeitalters herauf. Friedrich stand manchmal mit seinem jungen preußischen Staat vor Gefahren, mit denen wir die, welche wir heute zu überwinden haben, gar nicht vergleichen dürfen! Er ist damit fertiggeworden.

   Und wir, dachte Holt, Kerle wie Wolzow und ich... es wäre gelacht!

   Peter Wiese spielte. Dann, eines Tages der Endsieg! dachte Holt. Blumen, Jubel, Glockengeläut. Kling-ling-ling, läutete das Klavier. Als Holt sich verabschiedete, sagte Wiese leise: "Ihr geht ja nun bald... Ich werde wohl hier bleiben, untauglich. Holt sah durch den Wintergarten ins Freie. Armer Kerl, dachte er.

   Am Abend war Wolzow wieder da, und Holt blieb bei ihm in der leeren Villa. Sie saßen zusammen in der Halle, vor dem schwelenden Kaminfeuer. "Es werden ganz neue Flak-Waffen vorbereitet. Hoffentlich kommen wir noch richtig zum Schuss!" sagte Wolzow.

5

   Stenographie bei Hessinger, dann Zeugnisverteilung durch Studienrat Maaß, da herrschte in der Klasse schon Ferienstimmung. Man verabschiedete sich vom alten Schuljahr mit Rüpeleien. Hessinger, ein gutmütiger, alter Mann, hatte arg zu leiden; er war wehrlos, und man quälte ihn. "Ich weiß nicht", sagte Holt in der Pause, "aber es war zuviel, es war gemein." Gomulka betrachtete ihn nachdenklich. "Hast recht." - "Warum lässt er sich's gefallen?" rief Vetter. "Halt´s Maul", sagte Wolzow.

   Da geschah etwas Außergewöhnliches. Der dicke, blonde Vetter, wegen seiner Leibesfülle stets verspottet, rebellierte gegen Wolzow. "Jetzt geht dir der Arsch vorm Sitzenbleiben, ha?" Es war eine Sensation.

   Aber Wolzow nahm Vetter gar nicht ernst. "Du? Na, ich halt´s deiner Blödheit zugut." Er grinste. "Da hat der Maaß nämlich ganz recht, wenn er fragt, ob du die Blödheit von deiner Mutter hast. Denn das viele Fett hast du von deinem Vater."

   Zemtzki stand hinter Vetter und stichelte leise: "Das darfst du nicht auf dir sitzenlassen!" Vetter stammelte mit hochrotem Kopf: "Das... das... solche Beleidigung, also... heute um sechs am Rabenfelsen!"

   Wolzow war überrascht. "Du willst dich mit mir schlagen?" - "Du hast meine Sippe beleidigt", behauptete Vetter. "Ich bestimm die Bedingungen. Ich schick dir den Fritz, der ist mein Sekundant." Zemtzki nickte eifrig. Gomulka drängte sich nach vorn. "Ich bin Unparteiischer." Nun redeten alle auf Vetter ein. "Lass das, er haut dich zusammen!" Vetter war den Tränen nahe. "Aber meine Sippe... die Ehre meiner Sippe. - " Vor der Tür pfiff der Posten.

   Maaß trug die Zeugnishefte unter dem Arm. Er schielte über den Rand der Brille hinweg. Auch Wolzow wurde versetzt; seine sehr guten Noten in Turnen und Geschichte hatten Ihn gerettet, aber sonst war sein Zeugnis jammervoll. Draußen blinzelte er in die Sonne. "Heut sind ein paar Kisten gekommen, von meinem Vater, der Nachlass. Wir packen das gleich aus."

   Es war ein drückend heißer Nachmittag. Wolzow und Holt hatten sich bis auf die Badehose ausgezogen und kauten mit vollem Munde. In der Küche war seit Wochen kein Geschirr abgewaschen worden, verdreckte Teller und Töpfe füllten das Spülbecken. Auf dem Tisch häuften sich Tüten und Speisereste, Rotweinflaschen dazwischen, volle und leere. Wolzow holte Werkzeug, klemmte sich eine Rotweinflasche unter den Arm und schob Holt in die Halle. Dort standen drei große Kisten und ein paar Koffer auf dem Teppich. Wolzow riss die Vorhänge auf, durch die Fenster flutete Licht, die Staubteilchen tanzten. "Nimm erst mal'n Schluck Rotspon."

   Der Rotwein schmeckte, Holt trank aus der Flasche, mehrere große Schlucke. Wolzow warf Kistenbretter in den Kamin, dann packte er Röcke und Hosen aus. Das schlechte Zeugnis geht ihm wirklich nicht unter die Haut, dachte Holt. Sein eignes war gerade noch erträglich ausgefallen, aber Maaß hatte ihm "moralische Unreife und übersteigertes Geltungsbedürfnis" bescheinigt. Bei der Flak interessiert das niemanden, dachte er.

   "Hier!" sagte Wolzow. "Na bitte!" Er zog einen Offiziersdolch mit einem Griff von Elfenbein aus der Scheide. "Prachtvoll, was? Aber der Kamin stinkt." Holt riss ein Fenster auf. Die zweite Kiste war mit Schachteln, Etuis und Packtaschen gefüllt. Eine Aktentasche enthielt Papiere, dicke Stapel Landkarten, in Wachstuch gebundene Hefte, deren Seiten mit einer flüchtigen Handschrift bedeckt waren, ein Kästchen mit Orden und Ehrenzeichen und anderen Kram. "Ich bin der Erbe. Wenn meine Alte so weitermacht, lass ich sie entmündigen." Er rief: "Sieh her!" Da waren zwei, nein, drei Pistolentaschen. Wolzow öffnete die erste und entnahm ihr eine schwere Schusswaffe. "Mensch...", flüsterte Holt begeistert, "eine Nullacht!" - "Si vis pacem, para bellum...", sagte Wolzow, "daher der Name Parabellum." Er riss das Magazin heraus und öffnete den Verschluss, eine Patrone kullerte über den Teppich. "Und hier... eine siebenfünfundsechziger Walther. Die kenn ich noch nicht." Er schob Holt die dritte Tasche hin. Holt zog eine kleine Selbstladepistole aus dem Futteral. Er schloss die Hand um den Griff und zog den Schlitten zurück; eine glänzende Patrone sprang heraus. Mit leisem metallischem Geräusch glitt das Schloss wieder nach vorn. Jetzt den Finger krummgemacht... Herr bin ich über Leben und Tod!

   "Belgischer Browning", sagte er, "Kaliber sechsfünfunddreißig. Neben den beiden Kanonen fast´n Spielzeug, aber herrlich!" - "Wenn sie dir gefällt", sagte Wolzow, der die Walther wieder zusammensetzte, "kannst du sie behalten." Er lief auf sein Zimmer, holte das ausgestopfte Rebhuhn und stellte es auf den Kaminsims vor die glänzenden Klinker.

   Es klingelte. Draußen standen Gomulka und Zemtzki. Holt führte sie in die Halle. Wolzow stieß das Magazin in den Handgriff der Walther. "Kommt rein!" Er hob die Pistole, zielte auf das Rebhuhn und drückte ab. In der Halle krachte der Schuss wie eine Handgranate. Das Geschoss prallte vom Kaminsims ab und zerschmetterte eine große Vase, die keinen Meter neben Gomulka auf einem Tischchen stand. Pulvergeruch breitete sich aus. Gomulka, dem die Scherben der Vase um den Kopf flogen, verzog keine Miene. "Mein Tirolerstutzen hätte den Klinker zerschlagen", sagte er. Wolzow sicherte die Pistole und legte sie vor sich auf den Rauchtisch. "Du hast Nerven, alle Achtung! Du hast überhaupt allerhand kriegerische Tugenden!" - "Verrückt", piepste Zemtzki, "knallt mit Kanonen rum, bis es mal ins Auge geht!"

   Wolzow holte eine Rotweinflasche. "Setzt euch!" Die Flasche ging reihum. Dann begann Zemtzki: "Vetter ist vor versammelter Klasse beleidigt worden. Für seine Eltern kann er nichts, sagt er. Sie prügeln ihn jeden Tag, aber die Ehre seiner Sippe steht über allem. Gut, was? Ich hab gesagt, wenn er sich nicht mit dir schlägt, gilt er überall als Feigling." - "Der soll Ruhe geben", sagte Holt. - "Er hat sich was Neues ausgedacht, wo er bessere Chancen hat als im Boxen. Er will sich mit Fahrtenmessern stechen." Wolzow lachte. "Das hat er bei Karl May geklaut!" - "Dreschen will er sich nicht", meinte Zemtzki, "weil ihn sein Vater gestern erst mit'm Ochsenziemer verhauen hat. Aber er will die Ehre seiner Sinne mit deinem Blut abwaschen."

   Gomulka lächelte.

   "Gilbert nimmt die Forderung an", meinte Holt. "Meinetwegen sechs Uhr am Rabenfelsen. Sag dem Vetter folgendes: Gilbert ist das in der Erregung rausgerutscht. Das muss genügen. Messerstecherei ist ein bisschen übertrieben." Aber Wolzow rief: "Nachher denkt er, ich hab Angst!"

   "Vetter wird von allen gehänselt", sagte Gomulka nachdenklich. "Zu Hause ist er der Prügelknabe, ihr habt keine Ahnung, was dort manchmal los ist! Er ist richtig verbittert, und die Erklärung lehnt er ab, das weiß ich jetzt schon."

   "Mir macht es nichts aus", sagte Wolzow gleichmütig. "Jetzt raus mit euch, ich hab keine Zeit."

   Sie packten die letzte Kiste aus, und die Halle füllte sich mit Ausrüstungsgegenständen. Ein Koffer enthielt Pistolenmunition aller Kaliber, und schließlich packte Wolzow Zigarren aus, fünfundzwanzig Kisten vielleicht, duftende Zigarren. Er entdeckte die Brieftasche seines Vaters. Sie enthielt etwas mehr als dreihundert Mark.

   Er spielte wieder mit der Walther, nachdenklich, den Kopf auf die Seite gelegt. "Ich hab mir die Sache mit dem Meißner durch den Kopf gehen lassen. Dass ich heute im Dienst vor jedem Scharführer strammstehen muss, das verdanke ich ihm. Eigentlich wär da längst eine Abreibung fällig. Ich mach also mit. Aber es muss bald sein, denn in acht Tagen rückt er ein. Ich hab Stammführer Wurm getroffen, der führt mit dem Barth unser Erntekommando. Kann ja heiter werden! Also, der Meißner rückt ein." - "Wenn wir zurückkommen", sagte Holt nachdenklich, "ist er über alle Berge." - "Hast du etwa die Absicht, drei Wochen im Ernteeinsatz zu bleiben?" - "Wie meinst du das?" - "Durchbrennen!" - "Wohin?" fragte Holt. - "Das ist es eben... Aber auf jeden Fall hau ich hier ab... bis zur Einberufung."

   Holt überlegte. "Du kommst nicht weit. Früher war das anders." Aber nun stieg vor seinen Augen die wilde Landschaft der Berge empor, uferlose Wälder... die Höhle! "Ich wüsste was", sagte er, heiser vor Erregung. "Ein Versteck..." Und er erzählte.

   "Komm mit hoch", sagte Wolzow. In seinem Zimmer kramte er Landkarten hervor, Messtischblätter der Umgebung. "Der Vostrauer Berg kann´s nicht gewesen sein, den kenn ich genau... Zeig mal, wo du langgegangen bist." Holt studierte die Karte. "Hier... durch die beiden Dörfer... Dann bin ich nach Norden, dann ging´s um einen sehr langen Berg herum weststnordwestlich, dann wieder nach Norden..." - "Da bist du viel weiter weggewesen, als du glaubst! Der Vostrauer Berg liegt ganz woanders. Du bist wahrscheinlich um den Breiten Berg und weiter... Steinbrüche gibt´s da hinten viele... Hier muss das gewesen sein... Neben dem Kahlenberg... noch hinter der Bruchspitze... Das sind von hier dreißig Kilometer...", - "Ich bin auf dem Rückweg hart marschiert und doch etwa sieben Stunden unterwegs gewesen..."

   Wolzow saß auf dem Bett und paffte eine Zigarre. "Vor paar Jahren war ich mal dort... Eine verdammt einsame Gegend! Keine Dörfer, nur Wald... In den Bergen hat´s ganz früher Bergwerke gegeben. Wenn jemand von der Höhle wüsste, hätte ich´s bestimmt gehört!" Er ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. "Jetzt haben wir Juli. August, September... Da müssen wir´n Haufen Kram mitschleppen!"

   Holt lehnte am Fenster. Nun verschlug es ihm doch die Sprache. Aber dann sah er Wälder, Wolken, Berge... nächtliche Lagerfeuer, Sternenhimmel... Freiheit, UngebundenheitÂ…großes berauschendes Abenteuer!

   Wolzow studierte wieder die Karte. "Man kann den Weg mächtig abkürzen, wenn man flussaufwärts fährt, mit einem Boot durch den Schwarzbrunn... Das wär auch für´s Gepäck günstig, man könnte einen Kahn den Fluss hochtreideln... Wir sehn uns die Höhle gleich mal an, ja?"

   "Bis Dienstag", sagte Holt nun, und für ihn war das Abenteuer beschlossene Sache, "können wir alles vorbereiten. Dann wir zum Ernteeinsatz. Das ist tatsächlich die beste Art, hier zu verschwinden. Nach drei Tagen kommen wir heimlich verprügeln den Meißner, und anschließend geht´s los." alles ganz einfach.

   Aber Wolzow meinte: "Die Sache mit Meißner will gut überlegt sein; du weißt ja, Ãœberfall auf einen HJ-Führer, das kann uns übel bekommen." - "Er muss aber wissen, warum wir ihn verdreschen", sagte Holt. "Vorsicht", entgegnete Wolzow, das macht´s noch gefährlicher!" - "Und dein Onkel?" fragte Holt. "Kann der uns notfalls nicht beistehn?" - "Wo denkst du hin!" rief Wolzow. "Onkel Hans ist seit dreißig in der Partei, als deutscher Offizier würde er so was nicht dulden. Nein, wir müssen uns schon selber helfen." - "Wenn wir was in die Hände bekämen", meinte Holt, "was Schriftliches, ein Geständnis, das ihn unmöglich macht, falls er nicht den Mund hält!" Wolzow überlegte wieder. "Gute Idee", sagte er dann, "ich lass mir´s durch den Kopf gehen."

   Sie bereiteten sich auf die Verabredung am Rabenfelsen und zugleich auf den anschließenden Nachtmarsch zur Höhle vor.

   Sie packten die Pistolen ein, Munition, Taschenlampen, die Karte, einen Laib Brot und zwei Büchsen Fleisch. Jeder hing eine zusammengerollte Zeltbahn um.

   Der Rabenfelsen lag nahe der Stadt, hinter der Bismarckhöhe. Sie liefen zwischen Lauben und Gärten entlang. "Wir brauchen Gewehre", sagte Wolzow. "Mit der Pistole kann man keinen Hasen schießen, schon gar kein Wildschwein Eine Kleinkaliberbüchse muss her, mindestens... Meine ist kaputt. Der Sepp hat eine! Außerdem hat er einen Tirolerstutzen, Kaliber elf Millimeter... oder noch größer. Die Kugeln muss er aus Blei gießen, mit einer Kugelform, die Patronen lädt er mit Schwarzpulver. Es macht einen fürchterlichen Gestank und knallt wie eine mittelalterliche Feldschlange. Aber auf hundert Meter legst du damit jedes Wild um." - "Den Sepp sollten wir mitnehmen", sagte Holt. "Er hat die Schule genauso satt wie wir."

   Der Rabenfelsen bestand aus bizarr aufeinandergetiirmten Basaltbrocken. Die Sonne warf seinen Schatten bis an den nahen Waldrand.

   Gomulka begrüßte sie. Vetter hielt sich mit Zemitzki abseits. "Halt dich zu uns, Sepp, wenn der Zauber vorbei ist", sagte Wolzow.

   Zemtzki teilte feierlich mit, dass Vetter jede Versöhnung ablehne. "Er will kämpfen."

   Gomulka hatte auf der Wiese einen Kreis abgesteckt. Wolzow zog das Hemd über den Kopf, zog auch die Breeches und die Stiefel aus und stand schließlich barfuss, in der Badehose, im Gras. "Wollt ihr wirklich?" fragte Gomulka, plötzlich ganz ernst. Wolzow trat schon in den Kreis. Auch Vetter trug nur die Turnhose. Holt fuhr ihn an: "Du bist ein Rindvieh, Mensch, du bist selbst schuld, wenn dir ..." - "Wenn du mich beschimpfst, musst auch du mit mir kämpfen", unterbrach ihn Vetter. Er klapperte mit den Zähnen. Als er gleichfalls in den Kreis trat, schicke er argwöhnisch auf Wolzow, der gelassen wartete, einen halben Kopf größer als Vetter, Arme, Brust und Schultern mit Muskeln bepackt. Vetters Körper war schwammig, rosig, ein wenig gedunsen.

   Gomulka hielt Vetter ein HJ-Fahrtenmesser hin. Auch Wolzow erhielt einen Dolch. "Stellt euch in den Kreis, Gesichter abgewandt!" - "Und wer trägt Vetters Leiche nach Hause?" fragte Zemtzki. "Ich bin doch als Sekundant nicht etwa verpflichtet, ihn auch noch..." - "Still!" rief Gomulka. "Wenn ich sage 'los', dreht ihr euch um und kämpft, ohne weiteres Kommando. Wer den Kreis verlässt, hat verloren. Sonst bis zur Kampfunfähigkeit. Das Kommando lautet 'Achtung... fertig... los!' Das Kommando gilt: Achtung... fertig. - "Ich kämpfe nämlich für meine Sippe!" rief Vetter verzweifelt. Er war blass, und seine Knie zitterten. "Halt den Mund", sagte Wolzow, "Sepp, gib endlich das Zeichen!" Holt sah, dass Wolzow wütend war. "Los!" rief Gomulka.

   Beide drehten sich um und gingen langsam aufeinander zu, Wolzow ruhig und entspannt, aber Vetter watschelte unbeholfen daher, fuchtelte mit dem Dolch in der Luft herum und sagte vor Aufregung immerfort: "Los... los... los ..." Auf einmal warf Wolzow das Messer weg, Vetter erschrak und stieß mit dem Dolch nach ihm, Wolzow wich mit einem schnellen Schritt zur Seite und gab Vetter eine so gewaltige Ohrfeige, dass der dicke Junge rücklings zu Boden fiel. Ãœber Wolzows Arm rann Blut. Das alles dauerte nur eine Sekunde.

   "Vetter liegt außerhalb des Kreises, der Kampf ist beendet, Wolzow ist Sieger", erklärte Gomulka. Holt besah sich die Schnittwunde. "Ein Kratzer, nicht der Rede wert."

   Vetter saß im Gras und heulte. "Alle verspotten mich", sagte er schluchzend. "Ich kann doch nicht dafür, dass ich so dick bin... Ich bin kein Feigling!" rief er. "Meine eigene Sippe verbaut mich immer, und keiner will mein Freund sein! Aber ich mach das nicht mehr mit! Ich geh in die weite Welt..." Holt klopfte ihm auf die Schulter. "Hör auf zu heulen! Wenn du durchbrennen willst..." Er sah auf Wolzow. Wolzow grinste und nickte. "Komm mit uns. Wir machen den Laden hier dicht." - "Wenn du ein einziges Wort verrätst", drohte Wolzow, "knall ich dich einfach ab!" Er stieß Zemtzki in den Rücken. "Das gilt auch für dich!"

   Vetter trocknete sich die Tränen ab. Er stammelte: "Wirklich?... Wirklich?" Wolzow verteilte Zigarren. Die Sonne stand tief über den Bergen, der riesige Schatten des Felsens hüllte die Jungen ein.

   Holt erzählte von Wolzows Plan und von der Höhle. Wolzow setzte hinzu: "Wir brauchen deine Gewehre, Sepp... Wir schießen Wild. Dort gibt es genug Hasen und Rehe. Die Hunnen haben auch bloß Fleisch gegessen."

   Zemtzki und Vetter saßen mit offenem Mund dabei; aber Gomulka dachte lange nach. "Wir fliegen alle von der Penne, das ist euch klar?" - "Niemand fliegt!" rief Wolzow. "Wir sind verschwunden! Wenn wir einrücken, sind wir eben wieder da. Ich wette, dass dann keiner mehr an Rausschmeißen denkt! Wir werden doch alle bei der Flak gebraucht!" - Das ist richtig", sagte Gomulka. "Und dort hinten finden sie uns nicht, da müsste die Polizei mit ein paar hundert Mann die Wälder durchkämmen..."

   "Also ... Also... Gilbert!" rief Vetter plötzlich außer sich. "Wenn ihr mich mitspielen lasst... ich schwör dir ewige Gefolgschaft!" Sein Gesicht, das von der Ohrfeige geschwollen war, strahlte. Holt sagte: "Wir müssen alle schwören!" Dann standen sie im Kreis, mit erhobenen Schwurfingern. "Wir wollen treue Kameraden und Freunde sein und zusammenhalten, was auch kommt, jetzt und im Krieg. Der Wolzow soll unser Führer sein, und wir wollen ihn nie im Stich lassen." - "Wer so einen Eid bricht, ist ein Lump!" sagte Vetter. Holt sah stumm auf Wolzow, auf das harte Profil mit der Adlernase.

   "Wisst ihr, warum das hier Rabenfelsen heißt?" fragte Gomulka, als sie aufbrachen. "Hier soll mal einer einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, und der Teufel ist ihm in Gestalt eines schwarzen Raben erschienen."

   Niemand schloss sich vom Nachtmarsch zur Höhle aus.

6

   Tags darauf ging Holt über die Liegewiese zu seiner Kabine, zwischen den vielen Menschen hindurch, die den heißen Nachmittag am Wasser verbrachten. Er wusch sich im Fluss den Staub der langen Wanderung vom Körper, dann schlenderte er über das Floß.

   Beim Sprungturm saß Peter Wiese mit einem großen, blonden Burschen. Holt blieb überrascht stehen: Wiese und Hartmuth Meißner? Wiese winkte, Holt dachte: So ein Zufall! Er grüßte katzenfreundlich und sah sich Meißner an, interessiert und abschätzend. Er hatte ihn bisher nur flüchtig gesehen. Ein großer, kräftiger Bursche mit muskulösem, trainierten Körper, sehr braungebrannt. Ein eckiges Gesicht und kalte, farblose Augen. Das Haar war fast weiß. Wiese stellte sie einander vor.

   "Schon gut!" sagte Holt. "Wer kennt den Hartmuth Meißner nicht?"

   Meißner wandte ihm langsam das Gesicht zu. "Was soll das heißen?" fragte er. Holt lächelte. Es war ein Nervenkitzel. "Na, eben dies und das." - "Du bist rotzfrech", meinte Meißner, aber Holt unterbrach ihn rasch: "Sollst dauernd Weibergeschichten haben. So was spricht sich rum." - "Hast du da was Bestimmtes gehört?" - "Kann man´s wissen?" fragte Holt zurück. Er hielt Meißners Blick stand, er tat ganz harmlos, aber er fühlte dabei Hass in sich aufsteigen. Warte nur, bald stehen wir uns anders gegenüber!

   Er legte sich lang auf die sonnenheißen Bretter. "Hast ja recht", sagte er. "Wenn man bald einrückt, da nimmt man eben noch mit, was sich bietet." - "Für so einen Standpunkt bist du noch ein wenig grün", erwiderte Meißner. - "Was sind schon die paar Jahre, die du älter bist als ich! Wir haben alle die gleiche Philosophie." - "Und die wäre?" - "Leben und lebenlassen", sagte Holt.

   Meißner, der schläfrig in der Sonne saß, wachte auf. "Das klingt mir´n bisschen liberal." - "Gar nicht", widersprach Holt. "Keiner weiß, ob er wiederkommt, und da will sich halt jeder vom Speck noch ein ordentliches Stück abschneiden." Meißner schwieg. Dann sagte er mit geschlossenen Augen, den Kopf rücklings an die Balken des Sprungturmes gelegt: "Dass ihr alle den Geist unserer Zeit nicht begreifen könnt! Ein Stück vom Speck abschneiden... Was ist das für ein jüdischer Standpunkt! Es geht um das Reich, und ob der einzelne auf seine Kosten kommt, ist völlig bedeutungslos. Wer heute darauf ausgeht, sein Leben zu genießen, der verrät Deutschland! Und das Reich als Ganzes, mein Lieber, das kommt schon auf seine Kosten! Es wächst und erstarkt..." - "Vielleicht hast du recht, aber ich brauch keinen Unterricht, ich hatte zwei Jahre lang das beste Fähnlein im Stamm! Aber dass man sein Leben nicht genießen darf, das sag mal nicht so laut!" - "Ich habe nicht von der Masse, sondern von uns Führernaturen gesprochen", erläuterte Meißner. - "Mit den Führernaturen allein kannst du aber keinen Krieg führen." Meißner verzichtete auf eine Erwiderung. Er saß noch eine Weile in der Sonne, dann ließ er Holt und Wiese allein.

   "Was sitzt du mit... dem zusammen?" fragte Holt, und Wiese entgegnete, beinahe entschuldigend: "Er hat sich zu mir gesetzt..." - "Was meinst du...?" fragte Holt. "Ob ich mit ihm fertig würde?" - "Er ist älter... aber ich glaub schon", antwortete Wiese, etwas erstaunt, und da Holt nichts weiter sagte, begann er schließlich: "Du hast ihn richtig veralbert! Ich denke manchmal, du könntest der beste Schüler in der Klasse sein, wenn du nur wolltest! Warum lernst du nicht?"

   "Lernen ist nichts für Männer. Ich will endlich in den Krieg." Er dachte nicht daran, dass seine Worte Peter Wiese kränken mussten.

   "Da erfährt ein reicher Mann eines Tages", sagte Wiese nachdenklich, "dass er Schwindsucht hat. Die Ärzte sagen: Keine Rettung, noch ein Jahr! Alle Ärzte sagen ihm dasselbe. Da denkt er: Gut. Und nun bringt er sein Vermögen durch, bis auf den letzten Pfennig. Als das Jahr herum ist, da ist ein Wunder geschehn. Er ist gesund. Und steht vor dem Nichts."

   Ein dummes Beispiel, dachte Holt ärgerlich, ein echtes Miesepeter-Beispiel! Was interessiert mich das Nachher? Jetzt ist Krieg! Er zwang sich zu einer freundlichen Antwort. "Ich versteh dich", brummte er.

   "Und das Komische ist", sagte Wiese leise, "dass ich dich beneide! Ich gäb was drum", fuhr er dann fort, und es klang unglücklich, "wenn ich dein Freund sein könnte. Aber da muss man wohl sein wie der Wolzow. Ich war immer der Schwächste, ich hab immer gedacht: Meine Waffe ist der Geist... Aber eigentlich bist du auch klüger als ich."

   Komisch, dachte auch Holt. Er sagte: "Ich hab bei Nietzsche gelesen: 'Unser Glaube an andere verrät, worin wir gerne an uns selber glauben möchten... Unsere Sehnsucht nach einem Freunde ist unser Verräter...'"

   "Ja... so ist das... Ich möcht auch raufen und prügeln können, frech sein, aber... ich bin vom Ernteeinsatz zurückgestellt, und mit der Flak wird es auch nichts..." - "Wir können ja trotzdem Freunde sein", antwortete Holt, ein wenig gerührt. Er überlegte... Nein, kommt nicht in Frage. Aber... "Kannst du schweigen, Peter?" - "Ja, für dich hab ich. sogar schon gelogen!" Holt hielt Wiese die Hand hin. "Ich hab Vertrauen zu dir. Wolzow, ich und noch wer, wir haun ab... Bis zur Einberufung verschwinden wir. Aber du und ich, wir werden uns ab und zu treffen. Auch Gilbert darf es nicht wissen. Du sagst mir, was los ist in der Stadt und wie man über unser Verschwinden denkt.."

   "Komm mit zu mir", sagte Wiese später, mit einem Blick auf die Armbanduhr. Holt wunderte sich, dass Wiese bei dieser Hitze einen schwarzen Anzug, Schlips und Kragen trug. Als er den Grund erfuhr, bei Wieses in der Diele, war es zu spät, sich zurückzuziehen. Wieses Schwester hatte Geburtstag. "Bleib!" bat Peter. "Ich werde nachher vorspielen!"

   Holt kam sich lächerlich vor, in kurzer Lederhose und buntem Sporthemd; sein Haar, noch immer feucht vom Baden, stand zu Berge. In dem großen Raum waren die Glastüren zum Wintergarten und zur Veranda geöffnet, man blickte in den Garten hinaus. Um den Teetisch saßen Gäste. Holt war sehr befangen und sah nur das Bunt der Kleider und dazwischen eine schwarze Panzeruniform. Duft von Parfüm drang auf ihn ein, der Geruch von Zigaretten und Blumen. Wieses Schwester Helga sah ihrem Bruder ähnlich; denn auch sie war klein und zierlich, und das dunkelblonde Haar fiel in ein kränkliches blasses Gesicht. Sie wurde neunzehn Jahre alt.

   Wiese stellte Holt vor. Holt murmelte ein paar Gratulationsworte und stand trotzig auf dem bunten Teppich. Die Unsicherheit schärfte seine Sinne, nichts entging ihm: Frau Wiese, in ihrem Sessel, tauschte einen Blick mit dem blonden Mädchen, das neben dem Panzerleutnant saß, und der Mund des blonden Mädchens zuckte belustigt.

   Namen wurden genannt. Uta Barnim, Leutnant Kiefer, ihr Verlobter, und so fort. Man bot Holt Platz an, links neben ihm saß Frau Wiese, der Teetisch trennte ihn von Uta Barnim. Helga Wiese schenkte Tee ein. Holt verlor alle Befangenheit. "Wenn ich geahnt hätte, dass hier Geburtstag ist", sagte er, "ich hätte noch schnell ein paar Blumen geklaut... besorgt, mein ich." Das Lachen störte ihn nicht. Er sagte: "Blumen kaufen kann schließlich jeder! Geklaute sind viel wertvoller." Frau Wiese sagte: "Wir nehmen den guten Willen für die Tat."

   Mittelpunkt war Uta Barnim, die älteste Tochter des Obersten Barnim, an dessen Haus Holt allmorgendlich vorbeiging. Wie sie groß und aufrecht an der Verandatür saß, im Licht der Nachmittagssonne, so hatte er in seiner Phantasie Kriemhild gesehen, in Agnes Miegels "Nibelungen", oder auch Hildegard, die Grafentochter, im "Nest der Zaunkönige"Â… Er blickte rasch auf den Panzerleutnant, der ihn sonst vielleicht vor allen anderen interessiert hätte. Die anderen Mädchen sah er nicht, neben ihr, neben Uta.

   Peter Wiese saß am Flügel und blätterte in den Noten. Er sielte eine Haydn-Sonate und dann seine Lieblingsstück, verträumte und schwermütige Kompositionen von Schumann. Immer wieder sah Holt verstohlen auf Uta. Der dritte Satz, Allegro moderato? Alle räuspern sich, wie komisch! Ob sie vielleicht an mich denkt, jetzt, wie ich an sie? Ob man es fühlt, wenn die Gedanken einander begegnen? Ob es bei ihr anders wäre als an jenem Vormittag in der Kabine?

   Man applaudierte. Der Leutnant flüsterte Uta Barnim ein paar Worte zu. Fatzke! dachte Holt. "Ja, danke." Er nahm noch Tee. Eigentlich sollte ich gehn, dachte er, aber er blieb. Peter Wiese klappte den Flügel zu.

   "Du hast dich in letzter Zeit vervollkommnet", sagte Frau Wiese sanft. "Aber es wäre uns lieber, wenn du weniger üben und fleißiger trainieren würdest." Die Freude in Peter Wieses Gesicht erlosch. "Es ist uns sehr unangenehm, dass du auch dieses Jahr für den Ernteeinsatz untauglich bist", fuhr Frau Wiese noch sanfter fort. "Herr, Holt, vielleicht können Sie Peter ein bisschen mitreißen, Sie sind sehr sportlich, ich habe von Ihren Streichen gehört, aber Sie verbringen doch wenigstens Ihre Freizeit durchweg an der Luft." - "Na, wissen Sie, gnädige Frau", sagte Holt, "das hat sich auf mein Zeugnis nicht günstig ausgewirkt." Man lächelte. "In den Zeiten, in denen nicht der Geist, sondern die Faust entscheidet", sagte Leutnant Kiefer mit heller Stimme und erhobenem Kinn, "da ist das Einpumpen so genannter Weisheit völlig überflüssig. Der Führer verlangt, den jungen Leib zu stählen und hart zu machen, auf dass ihn das Leben nicht zu weich finden möge." Uta, neben ihm, sah durch die offene Verandatür ins Freie, als höre sie nicht zu.

   Frau Wiese ließ die "jungen Leute" allein. Sie gab Holt die Hand. "Ein Junge wie Sie wäre ein Freund für Peter. Mein Mann wünscht, dass Peter unter allen Umständen wehrdiensttauglich wird. Sie müssen ihn nur richtig im Wasser untertauchen und umherhetzen mit Ihren Freunden, das tut ihm gut!" Sie verließ bald den Raum. "Man soll den Bock nicht zum Gärtner machen", sagte Holt vergnügt. "Ich bin moralisch unreif, das hab ich schriftlich im Zeugnis." Uta, vielleicht zum ersten Mal, sah ihn an.

   Der Leutnant ging mit Wieses Schwester in den Garten hinaus, zwischen den Rosenstöcken entlang, und fragte über die Schulter nach dem Namen des Klassenlehrers. "Na ja, Maaß kennt man doch!" Holt lief auf einmal allein an der Seite Utas. Sie war nur wenig kleiner als er. Sie fragte: "Wie kommen Sie zu einer so verheerenden Beurteilung?" Die Frage war der blanke Spott. "Alles halb so wild", antwortete Holt. Ihr Spott ärgerte ihn und machte ihn unsicher. "Die Lehrer wissen nichts von uns. Die wahren Gedanken errät ja keiner." - "Sind die wahren Gedanken so fürchterlich?" fragte sie, noch deutlicher spottend. Er fühlte sich herausgefordert. "Ach wo, gar nicht! Meistens sogar recht... harmlos. Bloß vorhin, als Peter spielte, da war ich froh, dass niemand Gedanken lesen kann."

   Sie setzte die Worte blitzblank nebeneinander, wie gebastelt, und es war nun kein Spott mehr, sondern nur noch Belustigung. "Jetzt bin ich buchstäblich verpflichtet zu fragen: Woran dachten Sie?"

   "An Sie", sagte er heftig und schaute auf den kiesbestreuten Boden. Ihr Schweigen ermutigte ihn. "Sie sind das schönste Mädchen in der Stadt." Erst ein paar Schritte weiter antwortete sie: "Das Zeugnis, das Ihnen Ihr Lehrer ausstellte, ist lückenhaft. Sie können auch liebenswürdig sein."

   Die Gäste standen bei einem Aprikosenbaum. "Wer klettert hinauf und pflückt für die Damen Aprikosen?" schnarrte der Leutnant und warf einen aufmunternden Blick auf Holt und Wiese. Holt trat auf den Rasen, packte den Stamm und rüttelte. Er hob die größten und schönsten Aprikosen auf und brachte sie Uta. Sie dankte mit keinem Wort, aber sie sah ihn eine Sekunde lang nachdenklich an. Sie brach eine der überreifen Früchte auf, warf den Kern zu Boden und reichte ihm eine der Hälften. Dann ließ sie ihn stehen, nahm den Leutnant am Arm und verschwand mit ihm im Haus.

7

   Holt packte bei den Schwestern Dengelmann seine Sachen zusammen, erzählte etwas von Ernteeinsatz, anschließender Ferienreise und dass er sich irgendwann wieder einfinden werde... Dann lief er mit prallem Rucksack zu Wolzow. Den Abend verbrachten sie in der Halle vor dem Kamin. Holt verschwieg seine Vereinbarung mit Wiese, aber er erzählte, dass er Uta Barnim kennen gelernt habe. Wolzow fragte grinsend: "Na, und die Krüger?" - "Das ist doch etwas anderes!" sagte Holt unwillig.

   "Mein Aufmarschplan für die Sache mit Meißner ist fertig", erklärte Wolzow. "Wir machen das am Freitag." Sie mussten also spätestens Donnerstagabend den Ernteeinsatz abbrechen. Holt war einverstanden. Als Ort fand Wolzow den einsamen Rabenfelsen am besten geeignet. Ein fingierter Brief sollte Meißner hinlocken. Wie Wolzow herausgebracht hatte, machte Meißner zur Zeit einem rothaarigen Mädchen namens Suse den Hof. Sie war bei einem Photographen beschäftigt und, wie jeder wusste, verlobt.

   Holt entwarf ein paar Zeilen, die er Wolzow vorlas: "Lieber Herr Meißner, ich muss Sie unbedingt sprechen, ehe Sie einrücken, und Sie dürfen mir diese Bitte nicht abschlagen. Man darf mich nicht mit Ihnen sehen, wie Sie verstehen werden; kommen Sie also Freitagabend einundzwanzig Uhr zum Rabenfelsen, aber kommen Sie bitte bestimmt! Ihre Suse." - "Na, liebe Suse, da hör ich´s aber im Stroh rascheln", sagte Wolzow. - "Unsinn. Dass man sie nicht mit ihm sehen darf, bezieht er auf ihren Verlobten." - "Gut. Ihre Handschrift wird er nicht keimen, er hat bei ihr bisher auf Granit gebissen." - "Woher weißt du das alles?" Wolzow antwortete: "Ich hab meine Quellen. Jeder Feldherr hat seine Geheimagenten."

   Holt schrieb den Text auf rosa Briefpapier, Wolzow begoss den Umschlag mit Parfüm. Holt malte deutsche Sütterlinschrift, eckig, geziert, leicht nach hinten geneigt. Holt entwarf auch den Revers, den Meißner unterschreiben sollte. " ‚Ich erkläre, dass ich mit Ruth Wagner ein heimliches Liebesverhältnis gehabt und sie in schwangerem Zustand durch Drohungen eingeschüchtert und fortgejagt habe..." - "Schwangerer Zustand ist gut!" unterbrach Wolzow. Holt las weiter: " ‚Sie hat daraufhin durch meine Schuld Selbstmord verübt. Unterschrift." Er ließ das Papier sinken. "Ich glaube, das unterschreibt er nie!" - "Er unterschreibt. Lass mich nur machen."

   Ein Gefühl von Angst beschlich Holt. Worauf lass ich mich ein? Aber Wolzow steckte den Schein so gleichmütig in die Brieftasche, dass Holts Sorge schwand.

   Am Morgen brachte Gomulka die beiden Gewehre. Zu dem schweren, altertümlichen Stutzen gehörte eine große Tasche mit Zubehör: Kugelform, Gießkelle, leere Patronenhülsen, Zündhütchen, zwei Lederbeutel voll Schwarzpulver, ein kleiner, mit der Hand zu betreibender Blasebalg. "Ich brauch noch Salpeter und Schwefel, habt ihr Geld?" Wolzow trug in der Jacke die Scheine, die er im Gepäck seines Vaters gefunden hatte. "Blei fehlt?" fragte er. "Da reiß ich hier irgendwo ein Wasserrohr raus, kommt in der Bruchbude gar nicht drauf an!" Er riss das Wasserrohr im Bad neben seinem Zimmer ab und verkeilte den Zufluss mit einem Holzpfropfen.

   Am Nachmittag brachten auch Vetter und Zemtzki ihr Gepäck. In der Halle häuften sich Rucksäcke, Ballen und Pakete. In der Küche am Gasherd goss Gomulka Kugeln, dicke, fast dreißig Gramm schwere Rundgeschosse, und Holt lernte, die Zündhütchen in die Patronenböden einzusetzen, die Hülsen mit Schwarzpulver zu füllen und dann die Geschosse mit einem Holzscheit in die Hülsen zu treiben. Es sei mit zwanzig Prozent Versagern zu rechnen, erklärte Gomulka, ein erträgliches Maß.

   Gegen Abend waren sie reisefertig. Sie biwakierten auf dem Teppich in der Halle. Morgens fünf Uhr packten sie die Rucksäcke. Auf dem Weg zum Bahnhof warf Holt den fingierten Brief in den Kasten.

   Vor dem Bahnhof versammelten sich die Schüler, in den Uniformen der HJ und des Jungvolks.

   Der Pfiff einer Trillerpfeife schrillte. "Achtung! In Linie... angetreten, marsch, marsch!" Das war Otto Barth. Sie stellten sich am linken Flügel in Reih und Glied.

   Otto Barth, an der Schulter die grünweiße Führerschnur, stand vor der Front, groß und stark, mit einem verpickelten, vom Schreien geröteten Gesicht. Er war siebzehn Jahre alt und, wie Herbert Wurm, der Stammführer, seiner Funktion wegen vom Flakeinsatz befreit. Wolzow verzieh ihnen das nicht und spielte, wenn der Bannführer nicht in der Nähe war, den Aufsässigen.

   "Der Bannführer!" piepste Zemtzki. Tatsächlich trat Bannführer Knopf langsam vor die Front.

   Barth meldete Wurm, Wurm meldete dem Bannführer. Der Bannführer redete etwas von Einsatz, Pflicht und Verpflichtung.

   Als Holt sich in den reservierten Wagen zwängte, waren alle Abteile besetzt, aber Wolzow scheuchte ein paar Quartaner von ihren Plätzen. Vetter teilte Skatkarten aus. Wolzow holte eine Kiste Zigarren aus dem Rucksack. Sie bissen die Spitzen ab und spuckten sie auf den Boden, dann füllte sich dass Abteil mit Dunst. Die Quartaner standen ehrfurchtsvoll dabei. Wolzow sagte: "Wenn alles klappt, sind wir in vier Wochen bei der Flak. Jetzt lassen wir uns von Wurm und Barth nichts mehr sagen." - "Stammführer könnten wir nämlich schon lange sein", entgegnete Holt.

   Nach einer halben Stunde inspizierten Wurm und Barth den Wagen. Wurm war ein großer, magerer Bursche mit einem eiförmigen Gesicht und schwarzem, mit Pomade am Kopf festgeklebtem Haar. Er ließ stets den Unterkiefer herabhängen, und der offene Mund gab seinem Gesicht einen Ausdruck unbeschreiblicher Dummheit. Jetzt sagte er verdattert: "Ja ist denn das die Möglichkeit! Die Herren rauchen Zigarren!" Wolzow hielt ihm die Kiste hin. "Willst du auch eine?" Wurm schlug mit der Hand nach der Kiste, die Zigarren kullerten auf dem Boden umher. Wolzow stand auf und legte die Spielkarten weg. "Dafür bekommst du jetzt ein paar in die Fresse, Stammführer!" Wurm wich zurück, Barth rief: "Gib Ruhe, Wolzow, sonst mach ich Meldung an den Bann!" - "Aber die Zigarren hebt er auf"! beharrte Wolzow. "Schluss!" rief Barth. Er befahl den Quartanern: "Los, hebt die Dinger auf!" Wolzow setzte sich wieder. Vetter knallte die erste Karte auf den Klapptisch. Nebenan erzählte jemand: "Der Führer hat sich mit dem Duce getroffen, in einer Stadt in Oberitalien, ich denke, das hat was zu bedeuten, vielleicht wird jetzt auf Sizilien die Falle zugemacht."

   Nach fünfstündiger Bahnfahrt, auf einer kleinen ländlichen Station, trieb Barths Trillerpfeife die Jungen aus dem Zug.

   Die Chaussee war staubig, die Sonne brannte, die Marschkolonne sang: "Die blauen Dragoner, sie ra-hei-ten..." Links und rechts säumten Getreidefelder die Straße, auf denen der Roggen in Puppen stand.

   Nach zweistündigem Marsch erreichten sie ein großes Dorf. Auf dem Anger vor dem Wirtshaus teilte Barth die Kolonne in einzelne Gruppen. Wurm stand mit offenem Mund dabei. Sie kampierten in der Dorfschule.

   "Verpflegung gibt es erst ab morgen", berichtete Vetter. "Halb fünf treten wir auf´m Dorfplatz an. Ordnungsübungen! Abends will Barth Kameradschaftsabend machen," Das Programm wurde verworfen. Zemtzkis und Vetters Bedenken wurden von Wolzow getilgt. Als unten die Trillerpfeife schrillte, als alles aufbrach, warf Holt die Tür zu, riss von der Wandtafel das Bord ab, brach es über dem Knie in zwei Hälften und keilte eines der Bretter unter die Türklinke. Dann legten sie sich schlafen.

   Abends gegen acht wurden sie wach. "Und jetzt gehen wir ins Wirtshaus", befahl Wolzow.

   In der dunklen, muffigen Schankstube saßen ein paar Bauern beim Bier. Hinter der Theke stand ein dunkeläugiges Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren.

   Wolzow rief mit seiner rauhen Stimme: "Sagen Sie mal, Fräulein, wird das´n bisschen voller?" - "Nach dem Füttern", antwortete sie. Holt dachte: Sie ist hübsch... Vetter teilte schon wieder Karten aus. In der Ecke erhob sich ein Bauer, Holt schob ihm einen Stuhl hin. "Zigarre?" fragte Wolzow. Fräulein, ein Bier!" Bald saßen mehrere Männer bei ihnen, rauchten Zigarren und tranken das Bier, das Wolzow spendierte. Der Schankraum füllte sich mit Menschen. Jemand klimperte auf dem verstimmten Klavier. Die Deckenlampe brannte trüb, die Luft war grau von Zigarrenrauch.

   Holt ließ keinen Blick von dem Mädchen, das die Biergläser durch den Raum trug. Manchmal, wenn sie einen seiner Blicke auffing, lächelte sie oder zog unmerklich die dunklen Augenbrauen hoch. Zemtzki, Gomulka und Vetter spielten unterdessen Skat. Die Bauern, die um sie herumsaßen, schauten in die Karten und stritten nach jedem Spiel.

   Wolzow führte das Wort. Er hatte rasch nacheinander fünf Glas Bier getrunken. Er zeigte seinen Bizeps und ließ sich schließlich auf einen Zweikampf im Fingerhäkeln mit dem Schmiedegesellen ein, der nur ein Auge hatte und wie ein Freibeuter dreinschaute. Die Bauern erklärten den Kampf für unentschieden. Wolzow gab keine Ruhe. Ein fingerstarker Feuerhaken wurde gebracht, Wolzow bog ihn mit einem Ruck zusammen, der Schmiedegeselle bog ihn grinsend wieder gerade. Schließlich standen sie einander mitten in der Schankstube gegenüber. Die erhobenen Hände gegenseitig ineinander gefaltet, versuchte einer den anderen in die Knie zu zwingen. Beide keuchten, aber keiner erzielte einen Vorteil. Die Bauern spendeten Beifall.

   Zemtzki, Vetter und Gomulka warfen ihre Karten auf den Tisch, als ginge sie das Durcheinander ringsum nichts an. Wolzow legte den Arm um die Schulter des Schmiedegesellen. "Ein Fass Freibier!" schrie er. Daraufhin erhob sich Lärm.

   Holt sah, wie ihm das Schankmädchen mit den Augen winkte. Er erhob sich. Ein Gang führte hinaus auf den Hof. Er stand ihr im Halbdunkel des Korridors gegenüber. "Hat Ihr Freund genug Geld bei sich?" fragte sie. "Es kostet sechzig Mark!" - "Ich glaub schon", sagte Holt. Ein Geruch von Schweiß, Haar und Erde ging von dem Mädchen aus. "Was schaust denn so?" sagte sie und lächelte. Er fasste nach ihren Armen und fühlte einen Augenblick lang ihre warme Haut. Aber sie wich zur Seite. "Ich hab zu tun!" Er sah, als sie verschwand, wie sie ihm mit blitzenden Zähnen zulachte.

   Er tastete sich den dunklen Korridor entlang. Zur Linken führte eine Holztreppe steil nach oben. Dann stand er draußen auf dem Hof. Er lehnte sich gegen eine Stalltür. Am Himmel standen Sterne. Er atmete tief, er schämte sich plötzlich, aber an seinen Fingerspitzen, wie ein Kitzel, hing noch die Empfindung ihrer Haut.

   Die Schankstube, mit ihrem Trubel, dem Geplärre des Radios, dem beißenden Tabakdunst und den lärmenden Stimmen widerte ihn auf einmal an. Wolzow stand, von Bauern umringt, an der Theke. Als Wurm und Barth durch die Tür traten, knallte Zemtzki gerade das Herz-As auf den Tisch. Er saß mit dem Blick zur Tür, sah die beiden Führer und piepste erschrocken: "Verdammt, jetzt holen sie uns zum Dienst."

   Wurm und Barth blieben an der .Tür stehen und redeten lange aufeinander ein. Dann traten sie zögernd an den Tisch heran. Wurm bückte sich ein wenig und sagte gedämpft: "Ihr verlasst sofort das Lokal und kommt zum Dienst, oder es gibt eine Meldung an den Bann!"

   Holt sah das Mädchen mit hochgezogenen Brauen zu ihnen herüberblicken... Das Stimmengewirr ließ nach. Wolzow stand beim Tisch. Die Bauern blickten gespannt. "Lasst uns in Ruhe", sagte Wolzow mit schwerer Zunge. "Mensch, Wolzow", schnarrte Barth, "diese Drückebergerei..." Wolzow fiel ihm ins Wort: "Wer ist hier´n Drückeberger? Wer gehört längst zur Flak?" Barths Gesicht lief rot an. Wolzow wandte sich ab und ging wieder zur Theke. Das Stimmengeräusch setzte in unverminderter Stärke ein. Irgendwer klimperte auf dem Klavier. Zemtzki hatte sich von seinem Schrecken erholt und teilte Karten aus. Wurm beugte sich abermals über den Tisch und sagte im Befehlston: "Los! Macht, dass ihr rauskommt."

   "Achtzehn!" sagte Vetter schwitzend und sah sich hilfesuchend nach Wolzow um. Gomulka sagte: "ich halte."

   Wurm versuchte es anders. "Lasst euch doch von dem Wolzow nicht aufwiegeln! Wenn ihr so weitermacht, gibt´s Jugendarrest!"

   "Zwanzig", sagte Vetter. Gomulka sagte: "Hab ich!" - "Wir geben eine Meldung an den Bann. Wenn ihr gehorcht, lass ich euch aus!" - "Vierundzwanzig", sagte Vetter. Gomulka sagte: "Na ja doch, schon lange!"

   Holt fühlte die Augen des Mädchens auf sich gerichtet, schob den Stuhl zurück und sagte: "Wir bleiben!" Wurm wechselte einen Blick mit Barth. Holt zog den Kopf zwischen die Schultern... Da wurde er sanft, doch unwiderstehlich zur Seite gezogen.

   "Fang du nicht an!" sagte das Schankmädchen hastig. Er sah Ihre Augen, die dunkelgrau waren, und auf ihren Lippen standen ein paar winzige Speicheltröpfchen. Sie warf einen Blick zur Theke, denn dort rief man nach ihr. Sie flüsterte, nahe an seinem Gesicht: "Nach zwölf... über den Korridor die Treppe hoch, links die letzte Tür... warte dort... wenn du jetzt Ruh gibst!" Er sah sie bei der Theke, verwundert, verwirrt, er dachte: Das muss alles ein Irrtum sein...

   "Passe!" krähte Vetter, durch Holts und Wolzows Widerstand ermutigt. Gomulka sagte: "Grand! Schneider. Ich hab Vorderhand." Wurm rückte sein Koppel zurecht. "Gut. Ihr habt´s euch selbst zuzuschreiben. Komm, Otto!" - "Raus mit dem Onkel", sagte Gomulka und warf einen Buben auf den Tisch. Hinter Wurm und Barth schloss sich die Tür.

   Es schlug Mitternacht. Holt sagte zu Gomulka: "Ich geh voraus." Er trat durch die Tür auf die Dorfstraße.

   Die Silhouetten der Gehöfte verschwammen in der Nacht. Weit entfernt kläffte ein Hund. Der Lärm aus dem Wirtshaus klang gedämpft und unwirklich ins Freie. Holt zog fröstelnd die Schultern zusammen.

   Die Treppe hoch, links das letzte Zimmer... Er war ganz ruhig. Die Träume lügen. Das Leben ist ganz anders. Worauf soll ich warten? Er ging ein paar Schritte in die Nacht hinaus, der Lärm versank schon hinter ihm, nun war es still ringsum. Aus der Schenke traten Bauern. Er lief um das Haus und durchs Tor auf den Hof. Er fand den dunklen Korridor seltsam vertraut, als habe er sich von Kindheit an hier bewegt, auch die Treppe war er schon hundertmal emporgestiegen... Nun einige Türen aus rohen Brettern, das ist wie daheim auf dem Dachboden, wo man heimlich in Kisten herumstöberte, voller Angst vor Entdeckung... Er zog die Tür hinter sich ins Schloss und sah sich in der kleinen Kammer um. Er tappte am Bett vorbei und verharrte bewegungslos am geöffneten Fenster, bis sich die Stimmen seiner Freunde in der Ferne verloren.

   Eigentlich war ich immer allein, auch daheim, bei Mutter. Eigentlich habe ich immer Sehnsucht gehabt, nach irgendwem, nach irgendwas. Angst und Sehnsucht. Komm! Auf einmal bist du da, aufgelöst in Dunkelheit.

   Sie zog ihn vom Fenster fort, dann schlug sie das Federbett zurück. Ihre Kleider raschelten. Er handelte willenlos, als sei er nicht voll bei Bewusstsein, und erst, als ein verknoteter Schnürsenkel seine Ungeduld hemmte, setzte dröhnend der Herzschlag ein und dauerte fort, bis er neben ihr lag und ihren Körper an seinem fühlte.

   Der Morgen stieg über die Dächer der Bauernhäuser. In der Schule blieb Holt eine Stunde Schlaf, ehe die Trillerpfeife Barths ihn weckte.

   Er hielt den Kopf unter die Wasserleitung. Dann arbeiteten sie auf dem Feld.

   Sie beluden Erntewagen, zwei Tage lang. Die Arme und Schultern schmerzten. Am dritten hatte Wolzow genug. Er erklärte: "Das ist eine viel zu unkriegerische Arbeit für mich! Kommt ihr mit baden?" Sie gingen nicht mehr aufs Feld zurück. Sie packten am Nachmittag unbemerkt ihre Rucksäcke und marschierten zur Bahnstation. Holt warf einen Blick zurück, auf das Dorf, auf das Wirtshaus. Während der Fahrt saß er schweigend am Fenster. Er hörte nicht, dass Wolzow Fragen an ihn richtete.

   Er grübelte, ob die Wirklichkeit gehalten habe, was einstmals Traum und Phantasie versprachen... Er wusste nicht einmal ihren Namen. Er dachte an die Marie Krüger. Er dachte an Uta.

   Als sie anderentags in der Wolzowschen Villa das Gepäck zu großen Ballen zusammenschnürten, als Holt an den Abend, an Meißner dachte, und an die Nacht, die Flucht in die Berge, wurde die Unruhe in ihm so stark, dass er nach kurzem Nachdenken sagte: "Ich muss noch mal fort." - "Wo willst du denn hin?" fragte Wolzow verwundert. - "Zu Barnims." Wolzow blickte unzufrieden drein. "Egal Weibergeschichten", sagte er. "Na los, hau ab, aber lass dich nicht sehen!" Holt wusch sich In der Küche die Hände, reinigte die Fingernägel mit dem Fahrtenmesser und kämmte sich. Als er bei Barnims klingelte, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Man ließ ihn in der Diele warten. Als er Uta sah, vergaß er alles. "Sie kam wie eine Göttin", dachte er. Das hatte der Cavaradossi gesungen, In der einzigen Oper, die Holt gesehen hatte. "Sieh mal einer an", sagte sie, und ihr Lächeln zog ihn vollends in ihren Bann. Ich denke, man ist zum Ernteeinsatz?"

   "Ich bin abgehaun. Jetzt geh ich... lange fort. Vorher wollte Ich Sie gern sprechen."

   "Wie ich Sie kenne, ist es etwas Todernstes. Also kommen Sie." Er folgte ihr über die Treppe ins Obergeschoß. Dort Öffnete sie eine Tür und ließ ihn eintreten. Das Zimmer war voll Sonnenlicht. Den Fußboden bedeckte ein grobgewirkter Teppich. Vor einer Bettcouch stand ein Teetisch, von Polsterhockern umstellt. Und Blumen gab es, überall, am Fenster, an der Balkontür, auf dem Teetisch, Rosen, Nelken, üppige Gehänge von Brunnenkresse, wilde Wicken, die sich an den Gardinen hinab bis auf den Teppich rankten, und eine wuchernde Tradescantia. Auf dem Balkon stand ein Liegestuhl, daneben ein kleiner Tisch mit Rauchutensilien. "Holen Sie sich einen Sessel", sagte sie und ließ sich schon im Liegestuhl nieder, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Holt trug einen der Hocker hinaus und setzte sich neben sie. Sie hielt ihm wortlos ein Messingkästchen mit Zigaretten hin. Er rauchte.

   "Hat Ihr Besuch noch einen anderen Grund, oder sind Sie nur gekommen, um mich anzustarren?" fragte sie. Ihr Spott machte ihn mutlos. Er brummte etwas von... ganz allein in der Stadt..." und "... sonst keinen Menschen..." Sie sagte: "Also erzählen Sie! Warum leben Sie nicht bei Ihren Eltern?"

   "Ich wollte nicht länger bei meiner Mutter bleiben. Und mein Vater..."

   "Wollen Sie nicht davon sprechen?"

   "Doch", sagte er. "Aber nur zu Ihnen. Er arbeitet als Lebensmittelprüfer in einem städtischen Amt. Eigentlich ist er Arzt."

   Sie blickte interessiert zu ihm hin. "Und welchen Umständen verdankt er diese offensichtliche Degradierung?"

   "Ich weiß das nicht so genau", sagte Holt langsam, und wie stets bei der Frage nach seinem Vater befiel ihn Unsicherheit und Scham. "Er war lange in den Tropen, dann in Hamburg an der Universität Professor und zugleich am Institut für Tropenkrankheiten. Meine Mutter stammt aus der Industrie, und als er sie geheiratet hatte, ging er nach Leverkusen. Er forschte nach Krankheitserregern oder so. Aber dann sollte er eine andere Arbeit übernehmen, etwas... Kriegswichtiges. Da hat er sich geweigert und musste gehen. Er fand dann auch nichts anderes. Meine Mutter ließ sich von ihm scheiden, ich glaube, deswegen... Es heißt, er ist politisch unzuverlässig. Er ist wohl furchtbar starrsinnig. Lieber hungert er."

   "Jedenfalls", sagte Uta, "scheint Ihr Vater ein Mann von Charakter zu sein." Diese Worte überraschten Holt so sehr, dass er verwirrt "Ja... aber..." sagte, doch sie unterbrach ihn. "Warum leben Sie nicht bei ihm?"

   "Das Vormundschaftsgericht hat es verboten. Ich will auch nicht. Ich will frei sein! Deswegen bin ich auch von meiner Mutter fort. Es war sowieso kein Zuhause, auch früher nicht. Mein Vater hatte immer nur seine Arbeit im Sinn. Und meine Mutter war viel jünger als er, hatte dauernd Gäste, ging dauernd fort. Ich bin schon mal durchgebrannt, aber die Polizei hat mich zurückgebracht. Im Frühjahr hat Mutter mich endlich fortgelassen. Erst sollte ich zu meinem Onkel nach Hamburg, er ist dort im Aufsichtsrat einer großen Tabakfabrik. Doch dann hat mich Mutter hierher in Pension gegeben. Sie schickt jeden Monat Geld, sie hat ja genug, sie hat Vermögen." Er schwieg, er fragte sich: Wozu erzähl ich ihr das alles?

   "Und nun suchen Sie bei mir gewissermaßen Nestwärme, mütterliche Geborgenheit?"

   "Warum verspotten Sie mich?" sagte er. "Wenn ich Ihnen lästig bin, geh ich. Vielleicht haben Sie einen Menschen, dem Sie sich anvertrauen können, aber..." - "Nicht doch, warum gleich so gekränkt? Sie sind ein merkwürdiger Mensch!" meinte sie. "Nach Peter Wieses Bericht hielt ich Sie für einen Stromer. Ein Gefühlsleben, wie Sie´s da offenbaren, passt . schlecht zu diesem Bilde."

   "Der Wiese kennt mich ja gar nicht", sagte Holt verächtlich. Dann erst begriff er, was sie gesagt hatte: Nach Wieses Bericht... So hat sie ihn also ausgefragt! "Dass man die Lehrer ärgert und immer angibt", fuhr er fort, "das ist ja nur das eine... - "Und die andere Seele in Ihrer Brust, die sitzt dann und wann bei Peter und lässt sich vorspielen, die 'Ãœberreichung der silbernen Rose', obwohl´s im Klavierauszug ganz scheußlich klingt!" Sie lachte. "Es freut mich, dass Sie vor mir nicht angeben wollen. Also bitte. Vertrauen Sie sich mir ruhig an. Aber an den Spott werden Sie sich gewöhnen müssen. Ich glaube, er kann Ihnen nicht schaden." Sie erhob sich aus dem Liegestuhl und trat zur Balkonbrüstung. Mit dem Rücken an das Holz des Geländers gelehnt, sprach sie weiter: "Wenn Sie aber meinen, dass es mir anders geht als Ihnen ." Sie schwieg. Dann setzte sie, wie belustigt, hinzu: "So irrt sich der." Der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht. "Wenn das Taschengeld nicht ausreicht, dann kann ich mich natürlich Mama 'anvertrauen', wie Sie so schön sagten..." Sie konnte das Spotten nicht lassen. "Aber was ist das? Belanglosigkeiten. Warten Sie." Sie holte ein Buch aus dem Zimmer und setzte sich wieder in den Liegestuhl. "... denn im Grunde und gerade in den tiefsten und wichtigsten Dingen ", las sie, " sind wir namenlos allein..." Er konnte auf dem Buchrücken den Titel erkennen: Rilke, "Briefe".

   In den tiefsten und wichtigsten Dingen, wiederholte er in Gedanken, und: namenlos allein... Warum? "Man braucht aber doch jemanden, zu dem man Vertrauen haben kann! Wir haben was vor. Vielleicht brauch ich bald einen Menschen. Würden Sie mir helfen, wenn ich mal Hilfe nötig hab?"

   "Ihr Vertrauen hat etwas Ãœberwältigendes", meinte sie, schon wieder spottlustig. "Also gut. Versuchen Sie´s. Ich will sehn, was ich tun kann."

   Am späten Nachmittag saß Holt dann schweigend vor dem Kamin. Wolzows Fragen tat er mit einer Handbewegung ab. Vetter spielte mit Zemtzki und Gomulka Skat. Nun, da das Abenteuer unmittelbar bevorstand, kämpfte Holt mit einer unbeherrschbaren Aufregung. Wolzow winkte ihm mit den Augen. Auf seinem Zimmer fragte Holt: "Gilbert, wird alles gut gehen?"

   "Pass jetzt auf." Wolzow nahm die Walther-Pistole aus dem Schubfach und reichte sie Holt. "Du hältst ihn in Schach. Sollte er abhauen, dann schießt du rücksichtslos hinterher. Ich nehm die Parabellum. Wirst du die Nerven haben?"

   Holt krampfte die Faust um die Pistole.

   "Er darf nicht türmen", fuhr Wolzow fort. "Du hältst ihn also in Schach, bis er unterschrieben hat. Dann kannst du die Kanone wegstecken. Dass er unterschreibt, dafür sorge ich. Der Rest ist dann auch meine Sache. So, jetzt komm. Sei nicht aufgeregt, da kann gar nichts schiefgehn." Holt legte sich seine Worte zurecht: Einen schönen Gruß von der Ruth Wagner... Er sagte sich unaufhörlich: Es ist für die Gerechtigkeit... für Gerechtigkeit!

   Wolzows Stimme, unten in der Halle, hatte einen scharfen Kommandoton. Er ließ die Uhren vergleichen, es war neunzehn Uhr und achtundzwanzig Minuten. "Sepp! Acht Uhr bringst du den Angelkahn an die Parkinsel, oben, beim Schwarzbrunn, und vergiss nicht die Treidelleine. Wenn´s dunkelt, schleppt ihr das Gepäck zum Kahn, hinten durch die Gärten. Inzwischen sind wir wieder hier. Frag nicht. Alles klar? Komm, Werner."

   Sie umgingen den Rabenfelsen und näherten sich ihm von Norden. Der Wald reichte bis an den Fuß der aufeinander getürmten Basaltbrocken. Ein schmaler, von hüfthohen Farnwedeln bewachsener Platz schloss sich unmittelbar an die steil abfallende Felswand. Hierher schien niemals die Sonne. Der Boden war feucht und modrig. Wolzow verbarg sich am Waldrand.

   Unter dem Felsen war Dämmerung. "Er kommt!" rief Wolzow nach langem Warten. Holt drückte sich in eine der schattengefüllten Felsspalten. "Er kommt am Waldrand entlang", hörte er, "versteck dich, wir nehmen ihn zwischen uns!" Dann verschwand Wolzow im Wald. Holt stand unbeweglich, an den Fels geschmiegt, die Rechte in der Hosentasche um den Griff der Pistole geschlossen. Wenn er flieht... sofort schießen! Es ist für die Gerechtigkeit.

   Es dauerte eine Ewigkeit, bis am Waldrand Schritte laut wurden. Holt sah die hochgewachsene Gestalt Meißners im Gebüsch, und dahinter schlich Wolzow durchs Unterholz.

   Meißner war nur noch wenige Schritte von Holt entfernt. Er blieb stehen und wandte den Kopf erst nach rechts, dann nach links. "Hallo!" Dann sah er auf die Armbanduhr. Holt trat aus der Felsspalte. Meißner blickte auf, erkannte Holt und sagte überrascht. "Nanu!" Holt ging langsam um Meißner herum, bis er ihn zwischen sich und der Felswand hatte. Die Erregung schnürte ihm die Kehle zu. Auf einmal war auch Wolzow da. Meißner, um Holt im Auge zu behalten, hatte sich um seine eigene Achse gedreht. Als er Wolzow sah, sagte er noch einmal: "Nanu... Da sind die Herren ja beide!"

   "Hast wohl die Suse erwartet?" fragte Wolzow und grinste. Schritt für Schritt ging Holt auf Meißner zu, die Pistole noch immer in der Tasche. Wolzow hielt sich, scheinbar unbeteiligt, ein paar Schritte abseits. Holt stand nun unmittelbar vor Meißner. Er sagte: "Die Suse kommt nicht. Bist uns auf den Leim gegangen. Den Brief hab ich geschrieben." Meißner sagte, mit einer Stimme, die vor Wut zitterte: "Ach... So ist das! Anders habt ihr euch wohl nicht getraut?" Holt zog die Pistole aus der Tasche, richtete sie auf Meißner und sagte: "Einen schönen Gruß von der Ruth Wagner!"

   Meißner wich langsam zurück. Holt folgte ihm. Meißner blickte starr auf die Waffe. Seine Stimme war auf einmal brüchig. "Was wollt ihr?"

   "Nur eine Kleinigkeit", sagte Holt.

   "Achtung!" schrie Wolzow gellend. Holt trat instinktiv einen Schritt zur Seite, wie ein Schatten flog Meißner an ihm vorbei, der Schuss knallte durch die Dämmerung, und über das Bein, das Wolzow ihm stellte, schlug Meißner in die Farnwedel. Wolzow kniete schon auf seinem Rücken. Meißner bäumte sich auf, aber Wolzow hielt ihn nieder und schlug ihm zwei-, dreimal die Faust ins Gesicht, das zur Seite gewendet auf dem feuchten Boden lag.

   "Ich werde dir helfen!" sagte Wolzow. "Werner, bind ihm die Füße!" Holt zog den Gürtel aus der Lederhose und band Meißners Beine. Sie drehten ihm beide Arme auf den Rücken und schnürten ihm auch die Ellenbogen zusammen. Dann schleiften sie ihn durch den Farn zur Felswand, wo sie ihn aufrecht, ans Gestein gelehnt, hinsetzten.

   Es war dunkel. Wolzow leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht. Die Unterlippe war aufgeplatzt und dick geschwollen.

   "Was wollt ihr?" fragte Meißner mühsam. Wolzow zog den Schein aus der Tasche und las: "... 'heimliches Liebesverhältnis gehabt und sie in schwangerem Zustand durch Drohungen eingeschüchtert und fortgejagt'..." Während Wolzow las, hob Meißner den Kopf. Sein Gesicht zeigte Schrecken, Furcht und Wut.

   "So. Das wirst du erst einmal unterschreiben", forderte Wolzow.

   "Und... wenn ich nicht unterschreib?" "Du wirst unterschreiben. Du weißt, es gibt da eine Menge netter Sachen, wenn einer nicht will."

   Schweigen.

   "Und wenn ich doch nicht unterschreib?"

   Wolzow antwortete nicht. Er nahm eine Zigarette, reichte auch Holt die Schachtel, aber Holt schüttelte den Kopf. "Dann bringen wir dich´n Stück in den Wald und knallen dich ab." Das klang so gleichgültig, dass Holts Hände zu zittern begannen. "Du hast fünf Minuten Bedenkzeit. Komm, Werner!"

   Sie entfernten sich. Am Waldrand flüsterte Holt: "Und wenn er sich weigert?" - "Er wird unterschreiben, Verlass dich drauf! Er hat nicht die Nerven."

   "Und wenn er doch nicht... wollen wir ihn wirklich...?"

   "Was bleibt uns denn anderes übrig?" Wolzow war immer noch gleichgültig. "Wir können ihn doch nicht laufen lassen! Wir haben gar keine Wahl! Ãœberfall auf´n HJ-Führer, bewaffnet! Noch dazu, wo er jetzt weiß, dass wir die Geschichte mit der Wagner kennen. Wenn wir ihn umlegen, dann fingier ich´n Selbstmord, da haben wir eine Chance, dass man uns nicht erwischt. Aber wenn er uns anzeigt, geht´s uns dreckig. Komm jetzt, die fünf Minuten sind um."

   Holt ging an Wolzows Seite zum Felsen zurück. Mord. Kaltblütiger Mord! dachte er.

   "Na? Hast du dir´s überlegt?"

   "Ich unterschreib nicht", sagte Meißner.

   Wolzow schlug ihm die Faust ins Gesicht. Meißner schrie: .Verbrecher! Banditen!" Wolzow rief wütend: "Willst du wohl das Maul halten!", fasste ihn unter den Achseln und stemmte ihn hoch. Dann schlug er abermals zu, und ein drittes Mal. Meißner sank zusammen und stöhnte: "Und wenn ihr mich totschlagt!"

   "Sieh seine Taschen durch", sagte Wolzow kalt, "man darf unseren Brief nicht bei ihm finden!" Holt griff in die linke, dann in die rechte Brusttasche, fand den Brief und steckte ihn ein. "Bind ihm die Beine los", befahl Wolzow. Sie fassten ihn links und rechts an den Armen. Er sträubte sich. Sie schleiften ihn tiefer in den Wald. Mit einem Fußtritt hackte Wolzow ihm beide Beine unter dem Körper weg. Meißner stürzte zu Boden.

   "Jetzt ist Schluss!" Wolzow setzte ihm die Mündung der Armeepistole auf die Stirn. Da begann Meißner zu schreien: "Aufhören! Nimm den Revolver weg!" Er kreischte langgezogen: "Aufhören! Hilfe!"

   Wolzow presste die Mündung der Waffe fester gegen seine Stirn. "Willst du unterschreiben?" Meißner schrie: "Ja doch... Ja! Nimm die Pistole weg!"

   Sie richteten ihn auf und banden ihn los. Wolzow leuchtete mit der Taschenlampe, in der anderen Hand hielt er die Pistole. Meißner unterschrieb. "Setz noch das Datum hin", befahl Wolzow, "heut ist der 24. Juli 43. Den Tag sollst du dir merken!" Er steckte die Pistole weg und schob den unterschriebenen Schein sorgfältig in die Brieftasche. "Steh schon auf, Mensch! Es kann losgehen. Jetzt begleichen wir zwei unsere Rechnung."

   Holt sah, wie Wolzow auf den großen, blonden Burschen losschlug, der sich nur kurze Zeit zur Wehr setzte und bald wieder hinfiel. Wolzow trat ihn mit Füßen. Schließlich beugte er sich über die bewegungslose Gestalt, drehte sie auf den Rücken und leuchtete in das entstellte Gesicht. Meißner, in tiefer Bewusstlosigkeit, röchelte schwer.

   "Los, Werner, jetzt weg!"

   Der Himmel hatte sich bewölkt. Der Wald war nachtdunkel. Sie gingen eilig. "Hättest du ihn wirklich erschossen?" fragte Holt. "Ja, was denkst denn du?" antwortete Wolzow erstaunt.

   Dann, in der Wolzowschen Villa, die dunkel und menschenleer in der Nacht stand, saß Holt, den Kopf in die Hände gestützt.

   Einer lag jetzt zerschlagen und blutend im Walde. Ich bin viel zu weich. Ich muss härter werden! Mir graut vor Wolzow. Er hat, was mir noch fehlt: diese "Mörderkaltblütigkeit mit gutem Gewissen", von der ich gelesen hab. Wie will ich den Krieg bestehn? Ich muss härter werden.

   Draußen schlug die Tür. Wolzow nahm sein Gepäck auf. Sie gingen langsam durch die Gassen zum Fluss hinab. Wolzow schleppte eine Aktentasche voll Bücher mit. Er sprach von seinen Plänen. "Wir werden die Zeit gut ausnützen. Nachtorientierungsmärsche, viel Sport, viel Scheibenschießen. Wir müssen unser militärisches Wissen erweitern. Wir müssen unsere kriegerischen Tugenden festigen." - "Ja, Gilbert", sagte Holt.

8

   Holt und Gomulka schossen sich seit Tagen mit den Gewehren ein. Zemtzki hatte die Vormittagswache. Der Posten konnte vom Gipfel aus viele Kilometer weit das Gelände überblicken. Vetter, auf einem Klappstühlchen vor der Höhle, pfiff sich eins. Er putzte Pilze. In der Höhle, deren Eingang erweitert worden war, hing ein Kessel mit Wasser über dem Feuer. Gestern hatte Wolzow einen Hasen in der Schlinge gefangen. Vetter, der Küchenbulle, wie Wolzow ihn nannte, konnte den Hasen nicht braten. Vetter hatte Sorgen. Das Fett war aufgebraucht, auch das Brot, mit dem letzten Pfund Roggenmehl kochte er heute Pilzsuppe. Holt und Gomulka schossen unten, in der Schlucht, auf eine kopfgroße, sandgefüllte Blechbüchse. "Es hat keinen Zweck, auf die Jagd zu gehen, ihr vergrämt bloß das Wild", hatte Wolzow gesagt. "Schießt euch erst ein." Gomulka ließ den Stutzen donnern, stehend freihändig, er verschwand bei jedem Schuss in einer stinkenden Qualmwolke. "Treffer!" sagte Holt, das Fernglas an den Augen. Gomulka lud und schoss, auf fünfundsiebzig Meter. "Treffer", sagte Holt, "du triffst jetzt von drei Schuss zweimal, mehr wird´s nicht." - "Auf was Lebendiges schießt sich´s besser", sagte Gomulka und setzte den Stutzen ab, "das ist eine alte Weisheit. Jetzt du noch mal." Sie gingen auf etwa dreißig Meter an die Büchse heran. Holt schoss links. Das Kleinkalibergewehr peitschte, hell und dünn neben dem schweren Stutzen. "Gut, gut", sagte Gomulka, "ich denke, wir sind soweit." Sie hängten die Gewehre auf den Rücken und stiegen aus der Schlucht wieder zur Höhe des Kreideplateaus auf.

   Vor der Höhle stand Wolzow, in der Badehose. Holt und Gomulka begannen, die Gewehre zu reinigen. "Bloß Pilzsuppe!" sagte Vetter. "Wenn ihr heute nichts ranschafft, wird ab morgen gefastet." Wolzow hatte im Bach gebadet, auf seiner Haut standen funkelnde Wassertröpfchen. "Schießt, was euch vor die Gewehre kommt! Man kann auch Krähen essen, in der Suppe. Ich geh heut Abend mit Zemtzki los und grab ein paar Rucksäcke Kartoffeln aus. Ich werde mir auch mal die Dörfer ansehen." Er traf, während er sich ankleidete, immer neue Anordnungen. "Pilze ranschaffen und trocknen. Drüben, hinter der Schlucht, gibt´s bald Blaubeeren, Christian, merk dir das!" Vetter redete Wolzow mit "Chef" an und gehorchte ihm sklavisch. "Und dann", fuhr Wolzow fort, "sollten wir doch im Fluss angeln." - "Ist gefährlich", sagte Gomulka. "Dort unten sieht uns bestimmt jemand!" - "Wenigstens Nachtangeln auslegen", sagte Holt, der an seine Verabredung mit Wiese dachte. "Lasst mich das machen. Den Fluss übernehm ich." Vetter stimmte wieder sein Klagelied an. Er brauche Fett. "Kocht ihr mal was ohne Fett! ... Man müsste eine richtige Sau organisieren", sagte er träumerisch.

   Sie löffelten die Pilzsuppe. Vetter trug ein Kochgeschirr zu Zemtzki auf den Gipfel. Holt und Gomulka bereiteten sich auf den ersten Pirschgang vor. "Ihr seht aus wie Robinson", sagte Wolzow und grinste. "Wenn´s nach der Ausrüstung ginge, müsstet ihr ein Mammut schießen." Er rief ihnen hinterher: "Weidmanns Heil!"

   Sie stiegen den steilen Trampelpfad hinab und folgten dem der Schlucht, bis sich ein Tal vor ihnen öffnete. Sie wanderten die Gewehre schussfertig unter dem Arm, nach Osten, den dichten und verwilderten Wald. Gebüsch und Unterholz hemmten ihre Schritte. Ein Eichelhäher stimmte gellendes Warngeschrei an. Holt hob die Büchse. "Ob man Eichelhäher kann?" flüsterte er. - "Ja. Aber lass, du verjagst vielleicht was Größeres!" - "Das Geschrei vertreibt sowieso alles Wild. Polizei des Waldes." Der Vogel war auf den Zweigen Eiche niedergegangen, das bunte Gefieder leuchtete durch das Laubwerk. Ausatmen, Druckpunkt, Ziel aufsitzen lassen! Der Schuss brach. In einer Wolke stiebender Federn fiel der Vogel zu Boden. Holt lud. "Die erste Beute!" Er verstaute den Eichelhäher im Rucksack. Sie wanderten weiter.

   Als sich der Abend senkte, tat sich eine große Lichtung vor ihnen auf. Ein Bach plätscherte zu Tal. Sie rasteten und lagerten am Waldrand.

   Ein kühler Wind strich über sie hin.

   "Denkst du manchmal an zu Hause?" flüsterte Holt. "Nein, nie", sagte Gomulka. "Und du? Denkst du an die Stadt?" Holt schüttelte den Kopf. - "Und ... denkst du noch an den... Gasthof, dort, beim Ernteeinsatz?" Holt sah angestrengt zur Seite. Die Frage überraschte ihn. "Manchmal", flüsterte er langer Pause. Dann erstarrte er. Nicht weit von ihnen entfernt saß ein Hase im Gras der Lichtung, machte Männchen, mit spielenden Ohren, und äugte... Langsam, ganz vorsichtig brachte Holt das Gewehr in Anschlag. Er musste sich zur Ruhe zwingen, er zielte sorgfältig. Gomulka hielt den Stutzen schussbereit an der Wange, um zu feuern, wenn Holt fehlte. Dämmerlicht, nicht zu tief abkommen! Der Kopf mit langen Ohren stand zitternd auf der Visierlinie. Als der Schuss peitschte, sprang der Hase hoch und blieb liegen. Im gleichen Augenblick aber brach, greifbar nahe, ein großes Tier aus dem Gebüsch und flüchtete in langen, federnden Sätzen über die Lichtung. "Schieß!" schrie Holt. Da donnerte schon der Stutzen. Gomulka verschwand in einer stinkenden Rauchwolke. Das Echo rollte durch den Wald. Gomulka war aufgesprungen. Er stand vornübergeneigt und schob in fieberhafter Eile eine neue Patrone in den Lauf. Aber das große, flüchtende Tier verschwand jenseits der Lichtung im Wald. "Los! Lauf doch!" rief Holt. "Ein Reh war das, oder gar ein Hirsch!" Sie hetzten über die Lichtung, setzten im Sprung über den Bach. Am Waldrand rief Gomulka triumphierend: "Hier!" Eine große, versickernde Blutlache, eine breite Blutspur, die plötzlich endete. "Dort, das Gebüsch!" Sie teilten mit beiden Armen die Zweige. Da brach es schon wieder aus den Sträuchern, ein Schatten taumelte davon, zum Greifen nahe. Aus dem Gebüsch, wo das angeschossene Wild gelegen hatte, führte die dunkle Blutspur weiter. Gomulka hielt Holt in jähem Schreck am Arm fest: "Dort!"

   Etwa dreißig Meter vor ihnen, zwischen den Büschen, von der Dämmerung verhüllt, richtete sich das Tier noch einmal mühsam auf die Vorderläufe und wandte ihnen den Kopf mit dem mächtigen Geweih zu. Gomulka kniete, das Gewehr im Anschlag. Es dünkte Holt eine Ewigkeit, bis der Schuss knallte und das Echo sich in den Wipfeln verfing. Der beißende Geschmack des verbrannten Schwarzpulvers füllte Holt Mund und Nase. Der Hirsch sank zusammen. Gomulka ließ den Stutzen fallen, sprang auf und begann ein Jubelgeschrei.

   "Still! Wenn jetzt jemand kommt!" Sie standen unbeweglich und horchten. Kein Laut regte sich. "Wer soll denn hier kommen? Die Männer sind im Krieg, und die Weiber haben Angst im Wald." Er hob den Stutzen auf und schob eine Patrone in den Lauf. Dann standen sie bei dem verendeten Wild. Der Hirsch hatte im Todeskampf mit dem starken Geweih den Boden zerwühlt und lag nun auf der Seite. Gomulka zählte die Enden. "Zwölf", sagte er, "also ein guter, ein jagdbarer Hirsch... Und weidgerecht erlegt... Er hätte uns auch verludern können, wo wir keinen Hund haben!" Das erste Geschoß war hinter dein Schulterblatt in die Flanke gedrungen. Das zweite hatte den Hals dicht unterhalb des Kopfes durchschlagen. "Ich hab´s vorhin gleich gewusst, dass ich gut abgekommen bin", sagte Gomulka zufrieden, "er ist mir richtig in die Kugel hineingesprungen ..." Holt lief zurück und holte den Hasen. Dann schleppten sie den Hirsch tiefer in den Wald zwischen das Eichengebüsch. "Das sind gute zwei Zentner, ein schönes Gewicht!" - "Der Jäger sagt niemals ‚schönes Gewicht beim Hirsch", verbesserte Gomulka. "Es heißt gut, prächtig oder brav, auch beim Geweih. Und wer sich gegen die Weidmannssprache vergeht, wird zur Strafe über einen jagdbaren Hirsch gelegt und erhält drei Pfunde mit dem Blatt." - "Was, wie?" fragte Holt. - "Drei Schläge mit dem Weidmesser. Dazu sagt der Oberjägermeister beim ersten Pfund: 'Jo ho, das ist für meinen gnädigen Fürsten und Herrn! 'Beim Zweiten: 'Jo ho, das ist für Ritter, Leute und Knecht!' Und beim dritten: 'Jo ho, das ist das edle Jägerrecht!'"

   Holt lachte. Aber sie konnten sich nicht entschließen, die Beute zu zerteilen. "Hast du schon mal´n Hirsch aus der Decke geschlagen? Das schaffen wir nicht. Wir müssen ihn wegschleppen." Sie vergruben das Blut am Waldrand und im Gebüsch, fällten eine junge Tanne und zogen den Stamm durch die zusammengebundenen Läufe. "So geht es", meinte Gomulka. "Im Krieg werden wir manchmal noch schwerer schleppen", sagte Holt.

   Gomulka entzündete ein kleines Feuer. Sie brieten den Eichelhäher über der offenen Flamme, und da er kaum größer als eine Taube war, spießten sie auch den Hasen auf einen Stecken und ließen ihn über der Glut schmoren.

   Es war Nacht. Holt breitete seine Zeitbahn aus und legte sich nieder, den Kopf gegen den Hirsch gelehnt. Gomulka hockte ihm zur Seite und versorgte das Feuer. Die Flamme zischte, wenn das Fett in die Glut tropfte. Zwischen den Wipfeln der Bäume stand Stern an Stern.

   Holt schaute in den Himmel, wie vor ein paar Tagen, am Fenster einer fremden und dunklen Kammer, in jener Nacht. Eigentlich hab ich sie längst vergessen. Und wenn ich zurückdenk, dann seh ich ein anderes Gesicht... Du hast da vorhin was gefragt", sagte er. "Ich hab es gar nicht gewollt, dort im Gasthof. Ich wollte es; aber ich wollte es nicht so! Und doch hätte ich mich mein Lebtag einen Feigling genannt. Ich weiß bis heut noch nicht, ob ich mich schämen muss."

   Gomulka stocherte mit einem Ast in der Glut. "Ich hab früher gedacht, es könnte wie in den Büchern sein", fuhr Holt fort. "Alles aus Liebe und so. Wie bei Novalis. Kennst du das? Sie ist eine Königstochter, die Schönste im Land, und er ist ein ganz armer Hund, ein Dichter, der mit seinem Vater im Wald lebt; der Vater ist kolossal gelehrt, so´n halber Weiser. Die beiden lieben sich heimlich. Eines Tages gehn sie spazieren, und da kommt ein Unwetter, und sie müssen in eine Höhle flüchten, wo´s dann auch prompt passiert, aus Liebe natürlich. Aber sie traut sich nicht mehr zum König ins Schloss und bleibt bei dem weisen Mann und seinem Sohn. Der König lässt das ganze Land absuchen, umsonst. Nach einem Jahr bringt sie der junge Mann dann nach Hause, da hat sie´n Baby, und der Dichter hat aus der Geschichte ein Lied gemacht und singt es dem König vor. Der ist ganz unbeschreiblich gerührt, und er verzeiht ihnen. Ich finde so was schön. Aber die Wirklichkeit ist ganz anders."

   "Gib mal das Salz her", sagte Gomulka. "Hast du solche Gedanken öfter?" Er nahm den Hasen vom Feuer, teilte ihn und reichte Holt einen Fetzen des dampfenden Fleisches. "Ich bin gespannt", sagte Holt, während er mit den Zähnen das Fleisch von den Knochen riss, "ob es im Leben mit allen... Idealen so ist wie mit Novalis und der Wirklichkeit. Liebe, das hat mich immer ganz feierlich gestimmt. Aber es ist gar nicht feierlich, es ist... ganz anders. Mir ist auch immer so erhaben zumut, wenn ich die Morgenfeiern der HJ im Radio hör, am Sonntag. Neulich hab ich von den jungen Kriegsfreiwilligen gehört, von diesem berauschenden Hochgefühl der Hingabe, wenn man sein Leben fürs Vaterland opfert... Oder in diesem Büchlein 'Die Stimme der Ahnen' von Sörensen, das uns der Knack neulich mitgebracht hat; Ekke hieß der Freiwillige, von dem da erzählt wird. Es hat sich mir wörtlich eingeprägt, wie er geschildert wird: ‚halbaufrecht emporgeworfen die Handgranate mit einem Jauchzen in das Maschinengewehrnest schlendernd. Und im Schwung noch von der Kugel getroffen und niedersinken mit dem letzten Gedanken:... das beste für Deutschland...'"

   "Schmeiß den Dreck ins Feuer", sagte Gomulka, "keine Knochen rumliegen lassen! Die Asche graben wir nachher ein... Und da denkst du nun, es könnte damit auch so sein wie mit der Liebe? Wolzow meint, der Krieg ist ganz unpoetisch. Wissenschaftlich trocken, wie Chemie, sagt er." - "Aber wenn man sich dann durchgerungen hat, zur Todesbereitschaft und so, wie es bei Beumelburg im 'Frontsoldat' steht, kennst du´s?, dann soll ja erst die wirkliche und echte Begeisterung kommen."

   "Ich denke, in einem Jahr wissen wir´s", sagte Gomulka. Sie streckten sich zum Schlafen aus, Kopf an Kopf. "Es gibt vieles, worüber man mit keinem reden kann", meinte Holt leise. "Ich dachte früher mal, der Vater wäre dazu da, dass man alles mit ihm besprechen kann." - "Die Alten", sagte Gomulka, "wissen nicht, was sie wollen! Erst so, dann so."

   Noch nach Tagen fragte Vetter: "Wie habt ihr das bloß gemacht?" - "Eben abgedrückt und heimgeschleppt", sagte Gomulka.

   Täglich gab es drei Fleischmahlzeiten. Wolzow holte jeden zweiten Tag Kartoffeln. Tagsüber saß er vor der Höhle, studierte seine Lehrbücher der Strategie und brütete über einem Plan, von dem er noch nichts verlauten ließ.

   Er war einige Male bei einem weit entfernten Dorf gewesen, in dessen Nähe er aus einem Acker halbreife Kartoffeln ausgrub. Die Felder am Wald wurden oft von Schwarzwild heimgesucht, aber der Vorschlag, dort auf ein Wildschwein zu lauern, wurde verworfen. Der Schuss musste im Dorf gehört werden.

   Wolzow hatte einen anderen Plan. "Los! Wir halten Kriegsrat."

   Irgendwo, einsam im Wald, lag ein einzelnes, kleines Gehöft, berichtete Wolzow. "Sie haben einen Hund, einen ziemlich großen Köter, den muss man abschießen. Dann kann man in Ruhe ein Schwein aus dem Koben holen!" Holt erschrak nun doch. Aber Vetter rief: "Eine Sau? Eine richtige, gemästete Sau?" - "Den Hund abschießen, gut", sagte Holt. "Aber da hast du zwei Minuten später die Hausbewohner auf dem Hals!" - "Es wohnen ja bloß zwei alte Leute dort", entgegnete Wolzow. "Es muss ein Forsthaus sein. Die Leute halten zwei Kühe und ein paar Schweine. Drei von uns stechen die Sau ab und schleifen sie weg, zwei Mann halten unterdessen die Alten in Schach. Man kann es auch am Tage machen, wenn die beiden aufs Feld gefahren sind. Sie haben einen Weizenacker, ziemlich weit weg. Ich arbeite es bis ins kleinste aus."

   Holt hörte sich das schweigend an. Der Plan lockte, denn er war abenteuerlich. Immerhin: Einbruch, Raub, bewaffneter Raub sogar... Er sagte sachlich: "Darauf steht Zuchthaus!" Zemtzki schaute Holt erschrocken an.

   "Pfeif auf Zuchthaus! Erst müssen sie uns haben!" sagte Wolzow.

   "Requirieren... beim Bauern requirieren", sagte Vetter eifrig, "das ist im Krieg so Sitte! Mein Vater hat mal erzählt, dass die Wehrmacht in der Ukraine... in so einem Dorf. aus sämtlichen Gehöften das Vieh rausgeholt hat, nicht bloß eine Sau, und das wurde dann verladen. Die Leute mussten sich das gefallen lassen. Und wo sie nicht mitgemacht haben, da wurde alles an die Wand gestellt." - "Da siehst du ja, wie man so was macht!" sagte Wolzow. "Es ist eine gute Nervenprobe für später. Man muss alles, was vorkommen kann, schon mal durchexerziert haben."

   Holt wurde ein Gefühl der Sorge nicht los. Aber Wolzow die Gefolgschaft auf zukündigen, kam nicht in Frage. "Ich mach natürlich mit", sagte er. Dabei überlegte er schon, wie man den Folgen begegnen könne. Er machte sich nichts vor: er hatte Angst. "Ich setz mich mal einen Tag lang mit dem Fernglas auf eine Kiefer", hörte er Wolzow sagen, "und spionier alles aus. Die Operation wird erstklassig vorbereitet."

   Holt traf sich mit Peter Wiese. Er verließ das Lager unter dem Vorwand, am Fluss Nachtangeln zu legen.

   Wiese brachte allerhand Neuigkeiten. Das Verschwinden der fünf Jungen war noch nicht bemerkt worden. In der Stadt glaubte man sie beim Ernteeinsatz, und Wurm mochte seine Meldung noch nicht an den Bann geschickt haben. "Der Meißner", erzählte Wiese unter anderem, "liegt im Krankenhaus und konnte nicht einrücken. Er ist beim Klettern am Rabenfelsen abgestürzt. Aber man munkelt, dass ihn der Verlobte von der rothaarigen Suse so verdroschen hat, weil er immer hinter ihr her war." Holt verzog das Gesicht, er fühlte sich erleichtert.

   "Der Duce ist zurückgetreten", erzählte Wiese nun. "Er hat Badoglio zu seinem Nachfolger ernannt. In einem Aufruf hat Badoglio erklärt, dass der Krieg weitergeht. Im Rundfunk hat es geheißen, das deutsche Volk nimmt diese Erklärung zur Kenntnis." - "Komisch", sagte Holt befremdet, "verstehst du das?" Peter Wiese hob die Schultern. Später sagte er: "Sie haben eine Woche lang ununterbrochen Hamburg bombardiert, jede Nacht." Holt dachte flüchtig an seine Verwandtschaft und hörte Wieses Stimme: "Es soll grauenhaft sein. der Phosphor... furchtbare Wunden. Körper zu schwarzen Strünken verbrannt..."

   Er nächtigte am Fluss. Er dachte: Vielleicht werden wir an einem solchen Brennpunkt des Luftkrieges eingesetzt... Am Morgen holte er die Nachtangeln ein und trat mit ein paar kleinen Aalen den Rückmarsch an.

   Das Leben war anstrengend. Jeder Tropfen Wasser wollte In einer halsbrecherischen Klettertour vom Bach heraufgeholt sein. Holt und Gomulka durchstreiften die Wälder. Sie erbeuteten Hasen und Wildhühner. Bei den ausgedehnten Pirschgängen freundeten sie sich mehr und mehr miteinander an.

   Wolzow hatte einen Tag lang das Forsthaus belauert, und nun saß er vor der Höhle und dachte über einen Feldzugsplan nach. Wenn Holt das bevorstehende Abenteuer einfiel, vertiefte sich seine Sorge. Aber er sprach zu keinem davon, auch nicht zu Gomulka, während er mit ihm im Walde am Feuer nächtigte. Er überlegte hin und her. Wenn Wolzows Plan misslang, oder wenn sie hinterher gefasst wurden, dann konnte sie keiner, auch nicht Wolzows Onkel mit seinen weitreichenden Verbindungen, vor Strafe bewahren. Es galt also, einer solchen Strafe vorzubeugen. So reifte der Gedanke heran, bei Wolzows Onkel rechtzeitig und vorerst heimlich Rückendeckung zu suchen.

   Er traf sich wieder mit Wiese. Nun wurden sie in der Stadt vermisst. Die Polizei, erzählte Wiese, habe bei einigen Mitschülern angefragt, ob sie etwas von einem Urlaubsreiseplan der fünf wüssten. Offenbar forschte man erst bei den Verwandten der Jungen nach, denn den Erkundigungen der Polizei, so meinte Wiese, fehle der richtige Nachdruck... Der Rechtsanwalt Gomulka, zum Beispiel, vermutete Sepp bei seinem Bruder, der als Zahnarzt in Dresden lebte und zur Zeit irgendwo in einem Wochenendhaus den Sommer verbrachte. Holt kehrte diesmal ziemlich beruhigt zum Lager zurück.

   Am Abend saßen sie am Feuer und unterhielten sich. Vetter schwätzte: "Früher gab es eine richtige Seeräuberrepublik im Atlantik. Ich hab mal davon gelesen, die hießen Fli-bus-tier. Das wär was für mich gewesen. Da hätte meine Sippe mal versuchen sollen, mich immerfort zu hauen!"

   Holt erhob sich. Er hörte nicht auf Vetters Gerede. Seit er hier in den Bergen hauste, war die Erinnerung an Uta Barnim nicht verblasst. Jetzt war sie so stark, dass er Block und Füllfederhalter aus dem Rucksack kramte und im Schein des Feuers einen Brief an sie schrieb, verworrene, ungestüme Zeilen. Als er sich wieder mit Wiese traf, gab er ihm den verschlossenen Umschlag. Dann wartete er ungeduldig auf das nächste Zusammentreffen am Fluss. Und da Wolzow nun eifrig den Einbruch ins Forsthaus vorbereitete, verdichtete sich Holts Gedanke, mit Utas Unterstützung Wolzows Onkel zu Hilfe zu rufen,

   Am Fluss, bei dem verabredeten Treffpunkt, badete er in einem verschilften Wasserarm. Dann warf er die Angelschnüre aus und fing ein paar Barsche. Er trug eine Handvoll Kartoffeln bei sich, entzündete ein winziges Feuer und legte sie rings um die Flammen. An einem Holzstecken hielt er unterdessen einen der Barsche über die Glut. Als er gegessen hatte, legte er für die Nacht die großen Aalhaken. Erwartungsvoll saß er am Feuer, rauchte eine Zigarre und blickte über den Teich, der still und bewegungslos in der Abendsonne lag. Endlich kam Wiese.

   Er reichte Holt eine Zeitung. Holt überflog hastig die Notiz. "Fünf Oberschüler zwischen sechzehn und siebzehn Jahren. Verschwinden erst sehr spät bemerkt... Ernteeinsatz der HJ... Wie der Leiter des Kommandos angab, schon nach wenigen Tagen desertiert... Kreiskriminalamt vermutet einen organisierten Ausbruch aus der elterlichen Erziehungsgewalt... und verfolgt eine bestimmte Spur..."

   "Eine bestimmte Spur..." sagte Holt nachdenklich, während er die Zeitung einsteckte. "Mein Vater hat mit dem Jugendrichter gesprochen", berichtete Wiese. "Sie wissen gar nichts." Holt atmete auf. "Hast du den Brief eingeworfen?"

   "Ja. Vorgestern war Uta bei meiner Schwester. Sie haben von euch gesprochen. Von dem Brief hat sie kein Wort gesagt. Dass ihr hier in den Bergen steckt, daran denkt niemand. Uta hat gesagt: Die Polizei sollte ruhig abwarten, bis ihr wiederkommt."

   "Ob sie sich hier mit mir treffen würde?" fragte Holt. Wiese überlegte. "Ich glaube ja. Sie spricht gut von dir."

   Holt bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu ziehen. "Ich muss sie dringend sprechen. Bring sie das nächste Mal mit. Am Sonntagabend. Geh erst am Nachmittag hin, vorsichtshalber, dann hat sie keine Gelegenheit mehr, uns zu verpfeifen."

   Als er wieder allein war, sah er nach den Nachtangeln, legte sich nieder und schlief sofort ein. Nachts fiel Regen. Holt zog sich die Zeltbahn über den Kopf und schlief weiter. Im Lager erfuhr er, dass Wolzow wieder das Forsthaus beobachtete. Gomulka sagte: "Morgen geht´s los."

   Es war am späten Nachmittag, als Wolzow den Kriegsrat einberief. "Der Hund ist..." Er machte die Gebärde des Halsabschneidens. Er hatte sich am Waldrand verborgen und gewartet, bis der Alte aufs Feld fuhr. Der Hund, ein stämmiger Boxer, lief hinter dem Wagen her. "Er muss mich gewittert haben, auf einmal kam er durchs Gebüsch. Ich bin getürmt, immer tiefer in den Wald, der Hund hinterher. Da hab ich ihn in einen Knüppel beißen lassen und mit dem Fahrtenmesser abgefangen." Er erzählte es ganz ruhig. Dann schilderte er ausführlich seinen Plan. Der Hof mit seinen Gebäuden bildete ein Rechteck. Wohnhaus und Stall mit Schuppen standen einander gegenüber. In einer Mauer befand sich das Hoftor. Hinter dem Stall, in einem umzäunten Freigehege, liefen tagsüber die Schweine herum.

   "Wir erledigen es am Tag", sagte Wolzow. "Die Alten fahren früh gegen sieben auf den Weizenacker und kommen erst gegen Mittag zurück. So lange ist der Hof unbewacht. Werner, du und ich, wir passen auf, dass wir nicht überrascht werden. Der Sepp macht mit Fritz und Christian die Sau fertig und transportieren sie ab." Wie Wolzow es sagte, war das ganz einfach.

   "Sollen wir das Schwein etwa schlachten oder kann ich den Stutzen nehmen?" fragte Gomulka. - "Nimm den Stutzen. Such dir nicht das größte aus. Und dann die Beine zusammenbinden, wie ihr das mit dem Hirsch gemacht habt. Wenn das Schwein im Wald ist, schickt Sepp einen Mann zurück, und wir kommen nach."

   Am anderen Morgen reinigten Holt und Wolzow die Pistolen. Gomulka pflegte seinen Stutzen. Vetter und Zemtzki schlugen sich einen Pfahl zurecht. Tief in der Nacht brachen sie auf. Beim Morgengrauen kamen sie ans Ziel, verbargen sich im Gebüsch, bis sie den mit zwei Kühen bespannten Erntewagen davonfahren sahen. "Hoffentlich haben sie nicht 'n neuen Köter, und er beißt mich in´n Arsch!" sagte Vetter. "Ich klettere als erster über die Mauer und öffne das Tor", bestimmte Wolzow.

   Sie warteten noch eine Stunde. Dann schwärzten sie sich die Gesichter mit zerstoßener Holzkohle. Wolzow ging voran. Sie warteten vor dem Hoftor.

   "Hund haben sie keinen!" flüsterte Wolzow. "Sonst hätte er schon Laut gegeben!" Er sprang das Tor an wie eine Eskaladierwand. Da sieht man mal, wozu die Schinderei auf der Hindernisbahn gut war, dachte Holt. Eine Gans schrie. Das Tor flog auf. Wolzow rief etwas Unverständliches und deutete nach rechts. Vielstimmiges, entnervendes Gänsegeschrei antwortete.

   Holt stand hinter dem aufgebrochenen Tor; als er sich umwandte, sah er drei Gestalten über den Hof rennen, zu den Ställen hin. Wolzow umkreiste das Gehöft. Das Lärmen der Gänse und auch ein schrilles Quieken aus dem Schweinestall drang an Holts Ohr. Da donnerte der Tirolerstutzen, und Holt atmete auf. Er merkte, dass er schweißnass war. Noch immer lärmten die Gänse. Endlich rief Wolzow: "Werner. komm!" Holt sprang aus dem Hoftor. Draußen stand Wolzow und half ihm die Torflügel schließen. Dann kam Vetter gelaufen und rief: "Eine Prachtsau haben wir, eine prima Sau!"

   Die Aufregung entlud sich in krampfhaftem Lachen... Im Wald stießen sie auf Zemtzki und Gomulka, die mit der Beute warteten. Das Schwein war in ein paar zusammengeknöpfte Zeltbahnen gewickelt; aus dem grauen Bündel schauten nur die zusammengebundenen Schweinsfüsse. Sie nahmen den Stamm auf die Schultern. Zu viert schleppten sie die Last zum Lager. Zemtzki hatte sich das Schweineschwänzchen als Trophäe an die Mütze gesteckt.

   Neblige, trübe und kühle Tage folgten. Ãœber den Bergen hing die Wolkendecke grau und dicht. Es regnete stundenlang. Vetter briet ununterbrochen Fleisch. Eine tiefe, sauber ausgewaschene Felsmulde in der Höhle war mit Fett ausgegossen. Endlich brauchten Holt und Gomulka nicht mehr täglich auf die Jagd zu gehen.

   Draußen goss es in Strömen. Holt saß am Feuer, der Rauch zog durch den Schacht ins Freie.

   "Hast du die leere Hälse liegen lassen?" fragte Wolzow plötzlich. Holt dachte: Aha! Er grübelt also auch über die Folgen nach! "Nein. Ich bin doch kein Anfänger", antwortete Gomulka. "Jedenfalls haben wir für die nächste Zeit ausreichend zu essen", sagte Wolzow und steckte sich eine Zigarre an, "da schieben wir hier eine ruhige Kugel."

   "Wenn sie diese... Geschichte mit der Sau nur nicht mit uns fünf in Verbindung bringen", sagte Holt. Er zögerte einen Augenblick, ehe er fortfuhr: Denn im Kreisblatt hat folgendes gestanden." Er zog die Zeitung aus der Tasche und las die Notiz vor. Dann sagte er: "Nun vermuten sie uns bestimmt hier irgendwo in den Wäldern."

   "Die Wälder sind groß", sagte Wolzow. Dann erst stutzte er. "Verdammt, wo hast du das her?" - "Von Wiese." - "Von Wiese?" Wolzow sah Holt überrascht ins Gesicht. Gomulka hielt im Gewehrreinigen inne und legte den Stutzen neben sich auf den Boden. Holt sagte: "Ich treff mich manchmal mit ihm am Fluss."

   Wolzow dachte lange nach. "Eigentlich gar nicht so schlecht", knurrte er schließlich. Dass er die Heimlichkeit so ruhig hinnahm, wunderte Holt. Er sagte rasch und wie beiläufig, "Und morgen... treff ich mich mit Uta Barnim." Wolzow legte den Kopf zur Seite und überlegte wieder. "Red mal weiter. Du hast doch was vor."

   "Ich will sie fragen, ob sie zu deinem Onkel fährt. Sie müsste ihm am besten alles sagen."

   Wolzow kaute an seiner Unterlippe. Er überlegte lange. "Onkel Hans wird furchtbar fluchen, aber es ist eine brauchbare Idee... Ob ich ihm schreib?" - "Du wirst doch kein schriftliches Geständnis abgeben!" rief Gomulka. Wolzow stand auf. "Ich überschlaf´s noch."

   Als Gomulka sich neben Holt zum Schlafen niederlegte, sagte er: "Hast du´s gesehen? Gilbert hat richtig aufgeatmet!"

   Am Sonntagmorgen frühstückte Wolzow ein kopfgroßes Stück Fleisch. Er biss mit seinen starken Zähnen auf die Knochen, dass es knirschte. "Dann geh mal", sagte er. "Hoffentlich verpfeift sie uns nicht." Holt blickte zum Himmel. Endlich riss die Wolkendecke auseinander. Er machte sich auf den Weg.

   Noch sorgfältiger als sonst suchte er das Sumpfgelände rings um den Treffpunkt ab, die Schilffelder und Weidenbüsche. Er schleppte die Zeltbahn voll Reisig aus dem nahen Wald in sein Versteck. Am Feuer aß er ein Stück Schweinefleisch, das ihm Vetter mitgegeben hatte. Langsam wurde es Abend.

   Er ließ das Feuer niederbrennen und legte einen Kloben auf, der nur langsam verglühte. Dann wartete er am Waldrand. Als er Uta kommen sah, auf dem schmalen Rasenpfad zwischen Wald und Niederung, wurde ihm bewusst, wie aufgeregt er war.

   Er trat aus dem Gebüsch, und sie begann zu lachen. "Sie spielen also tatsächlich noch Indianer!"

   Holt ärgerte sich. "Hau mal´n bisschen ab, Peter", sagte er. "Warte beim Eichenholz, ja?" Wiese ging gehorsam den Weg zurück. "Wir müssen uns verstecken." Er drang in das Weidengebüsch ein und hielt für sie das Geäst zur Seite. Zwischen den Sträuchern war es dämmrig. Die glühenden Holzkohlen leuchteten. Er legte seine Decke auf den Boden. Sie setzte sich ans Feuer und sah ihm belustigt zu, wie er eine Zigarre aus der Kartentasche kramte und große Rauchwolken ausstieß. Sie begann wieder zu lachen.

   "Im Wald Indianer spielen!" Er fühlte, wie er errötete, und sagte: "Wir haben eben dieses langweilige zivile Leben satt! Verstehen Sie das nicht?" - "Eigentlich hätte ich Sie für vernünftiger gehalten", erwiderte sie.

   "Wir haben einen Hirsch geschossen", erzählte er, und er setzte, auf einmal recht kleinlaut, hinzu: "Dann haben wir was Schreckliches angerichtet... Wir haben aus einem Gehöft ein Schwein geraubt."

   Sie erschrak. "Was reden Sie!"

   Er versuchte, sich zu rechtfertigen, aber der Trotz überzeugte nicht einmal ihn selbst. "Mit dem Kompass durch den Wald. Wozu haben wir das gelernt? Und Schießen; oder die Eskaladierwand, an der sie mich schon im Jungvolk gedrillt haben... Das haben wir hier alles mal durchprobiert." Er schaute misstrauisch auf Uta.

   Sie sah ihn nachdenklich an. "Bitte..." sagte er leise, beinahe kläglich, "fahren Sie nach Berlin zu Generalmajor Wolzow. Wenn Sie alles erzählen, hilft er uns, dass wir nicht eingesperrt werden."

   "Eigentlich", entgegnete sie, "sollten Sie Ihre Untaten allein ausbaden." Das Wort "Untaten" war wieder der blanke Spott. "Was haben die denn davon, wenn sie uns einsperren?" meinte Holt. "Die solln uns endlich in den Krieg lassen. Da ist das doch alles erlaubt." Sie schüttelte den Kopf. "Erzählen Sie mir alles. Die ganze Geschichte, von Anfang an." Holt erzählte. Sie sagte, als er fertig war: "Gut. Ich fahre. Aber..." - "Was aber?" - "Nichts." Sie erhob sich. Er ging neben ihr her, den schmalen Pfad zwischen Sumpf und Wald entlang; er schob die Hand unter ihren Oberarm. Sie duldete es. "Ich bin ihnen so dankbar...", begann er stockend. Sie spottete: "Sentimentalitäten stehen dem Bandenräuber schlecht an!" - "Ich denk immerfort an Sie...", sagte er beharrlich, "Tag und Nacht denk ich an Sie..." - "Und wenn Sie mit Ihrem Räuberdasein in den Bergen eins erreicht haben", erwiderte sie, "so dies, dass ich gleichfalls öfter an Sie denken muss." Er zog ihren Oberarm fester gegen seine Brust. "Sie haben mich ganz durcheinander gebracht..." - "Was Peter sicherlich sehr interessieren wird", sagte sie lachend. Tatsächlich, da saß Wiese am Waldrand. Kühl und distanziert sagte sie: "Nächsten Samstag, am gleichen Platz."

   "Ich glaube, es ist bald Schluss mit dem Leben hier", sagte Gomulka. "Eigentlich schade, nicht?" Holt gab keine Antwort. Er war eine Nacht lang allein durch den Wald gestreift, von einer neuerlichen, quälenden Unruhe erfüllt. Sein Interesse am Lagerleben, an Jagd und Fischfang war erloschen. Ich hätte jeden Tag Uta besuchen können, dachte er... Er gab sich uferlosen Tagträumen hin, wenn er faul in der Sonne lag. Er liebte es, früh aufzustehen.

   Am Samstagmorgen lief er vor Sonnenaufgang aus der Höhle, kletterte durch die Felsen und legte sich in den eiskalten Bach. Dann brach er auf. Er verbarg sich am Fluss im Weidengehölz und schlief bis zum Abend.

   Er las in Utas Gesicht, dass sie Erfolg gehabt hatte.

   Sie ließen Wiese warten und liefen am Waldrand entlang. "General Wolzow hat getobt", erzählte sie. "Dann hat er wohl eingesehen, dass er seinen einzigen Neffen nicht im Gefängnis enden lassen kann. Er will mit dem Oberstaatsanwalt telefonieren und dieser Tage herkommen. Nächste Woche sollen Sie sich der Polizei stellen." - "Das ist ja nun keine sehr angenehme Lösung", sagte Holt missmutig. "General Wolzow", entgegnete Uta streng, "hat gesagt: Wenn Sie sich nicht seiner Anweisung fügen, verliert er das Interesse an seinem Neffen und macht keinen Finger mehr krumm." Sie fasste Holt am Arm. "Ãœberreden Sie die anderen! Der General sorgt bestimmt dafür, dass Ihnen nichts geschieht. Aber nun machen Sie endlich Schluss mit dieser... versetzten Romantik. Und noch etwas Wichtiges." Sie sprach leise und eindringlich. "Sie dürfen den Ãœberfall auf den Hof nicht zugeben! 'Das sind die Jungen nicht gewesen!' hat der General gesagt, denn eine solche Affäre könne auch er nicht geradebiegen. Sie müssen leugnen und leugnen, falls man es Ihnen überhaupt zur Last legen sollte."

   Dies alles interessierte Holt schon gar nicht mehr. Das Abenteuer war Vergangenheit. Die Gegenwart war Uta. Die Zukunft war der Krieg.

   Er schaute zur Seite. In den letzten Wochen war viel geschehen. Ein verzauberter Augenblick, eine ländliche Nacht, und der Schleier war endgültig zerrissen. Sie ging neben ihm, Ihre Schönheit war keine Aureole mehr, die sie unnahbar machte. War sie nicht aus Fleisch und Blut wie er? Er fasste ihre Hand, und sie ließ es geschehen. "Schönen Dank auchÂ…", sagte er, unbeholfen. "Hoffentlich... haben Sie nun keine gar zu schlechte Meinung von mir!"

   Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihn. Er sagte: "Damals, bei Wieses... ich dachte, man darf Sie nur von ferne bewundern... Sie dürfen es mir nicht übel nehmen, wenn ich..."

   "Still!" rief sie. "Was fällt Ihnen ein?" Und sie entzog ihm ihre Hand.

   Am Wege saß Peter Wiese, erhob sich und putzte ein wenig Erde von seiner Kleidung. "Vergessen Sie nicht: am kommenden Donnerstag", sagte sie. Schon war sie um die Biegung des Weges verschwunden.

   Holt sah ihr erschrocken nach.

9

   "Reumütige Rückkehr in die Stadt, freiwillige Auslieferung bei der Polizei... ein bisschen kläglich, dieses Ende, was?" sagte Gomulka. Auch Holt hatte sich alles anders vorgestellt.

   Wolzow hatte nur eine Sorge: "Wenn sie das Gepäck durchsuchen, sind die Pistolen hin!" Er begoss sie schließlich mit Waffenöl, wickelte sie in eine Zeltbahn und versteckte das Paket im Steinbruch. Vetter schlang seit einer Woche nichts als gebratenes Fleisch in sich hinein. "Kein Knöchelchen lass ich übrig", schwur er. Gomulka erhob sich und nahm den Stutzen. "Kommst du mit?" In der Schlucht verschossen sie die letzte Munition. Sie waren sichere Schützen geworden. In der letzten Nacht saßen sie am Feuer. Wolzow, Vetter und Zemtzki schliefen. "Abschiedsstimmung", sagte Gomulka. "Da geht aber bisschen mehr zu Ende als bloß das Abenteuer", erwiderte Holt. "Die Schulzeit, ein ganzer Lebensabschnitt." Gegen drei Uhr weckten sie Wolzow und die anderen, löschten das Feuer und trugen das Gepäck zum Fluss. Am frühen Nachmittag stießen sie den beladenen Kahn vom Ufer ab. Gomulka saß im Heck und steuerte. Sie trieben mit der Strömung.

   Sie legten bei der Badeanstalt an. Die Rückkehr söhnte mit dem kläglichen Ende des Abenteuers aus. Die Leute liefen zusammen. Da kamen sie, verdreckt, bartstoppelig, bewaffnet und beladen, polizeilich gesucht, gewissermaßen mit einem Steckbrief bedacht. Nur Vetter zitterte, vor der Rache seiner Sippe. Das Gepäck verstauten sie in Holts und Wolzows Badekabinen, dann drängten sie sich durch die Menge und meldeten sich bei der Polizei.

   Sie wurden in eine große Zelle gesperrt. Vergitterte Fenster, sechs Holzpritschen, ein Kübel. Vetter teilte Karten aus.

   Am anderen Tag wurden sie dem Richter vorgeführt. "Den kenn ich", flüsterte Gomulka, "das ist der Jugendrichter!" Groß und dick saß er hinter einem mächtigen Schreibtisch, kahlköpfig, fetten Gesichts, und musterte die fünf Jungen durch die randlose Brille, wohl eine Minute lang.

   "Pfui Teufel!" sagte er. "Das Vaterland kämpft, blutet, leidet. Fünf junge Menschen desertieren! Treiben sich rum! Pfui Teufel! Fahnenflucht vom Ernteeinsatz! Herumtreiberei! Wilddiebstahl! Jagdfrevel! Tierquälerei!... Zemtzki !" schrie er, mit einem Blick in die vor ihm liegende Akte. "Gestehen Sie! Wer hat das alles angestiftet?"

   "Bitte...", sagte Zemtzki flehend, und seine blauen Augen blickten unschuldsvoll. "Ich gestehe alles. Ich bin es gewesen! Aber ich bin es nicht allein gewesen, die anderen sind es auch alle gewesen!"

   "Pfui Teufel!" sagte der Richter abermals und schüttelte den kahlen Kopf. "Wolzow! Was haben Sie sich dabei gedacht? Ihre Mutter liegt im Krankenhaus! Ihr Vater ist für Führer und Reich gefallen! Ihr Onkel steht in vorderster Front! Und das Früchtchen treibt sich herum und wildert! Pfui Teufel! Lind kein bisschen Reue! Unverschämter Blick, freches Gesicht, aufsässiges Gehabe!" Er neigte den Kopf tief über das Aktenstück und begann vorzulesen, ganz schnell: "Die Jugendlichen Gomulka, Sepp, geboren am 15. Juni 1927, Holt, Werner, geboren am 11. Januar 1927, Vetter, Christian, geboren am 30. April 1927, Wolzow, Gilbert, geboren am 23. März 1927, Zemtzki, Fritz, geboren am 1. Juni 1927, alle hier ansässig, werden auf dem Wege der Strafverfügung gemäß Paragraph $28 StPO wegen unerlaubter Entfernung vom Ernteeinsatz der Hitlerjugend, Herumtreiberei, Jagdfrevel laut Paragraph 292 StGB Abs. 1 und 2, Bildung bewaffneter Banden laut Paragraph 127 Abs. 1 und 2 StGB und wegen ständigen Vergehens gegen das Gesetz zum Schutz der Jugend mit acht Tagen Jugendarrest bestraft. Die Täter sind geständig. Strafmildernd wurde in Betracht gezogen, dass sie in verspäteter Einsicht der Verwerflichkeit ihres Tuns sich selbst dem Gericht gestellt haben. Gegen diese Strafverfügung kann Beschwerde beim Kreisgericht eingelegt werden, auch kann durch schriftlichen Antrag die Entscheidung des Kreisgerichtes angerufen werden, das dann die Hauptverhandlung ansetzen wird."

   Er klappte den Deckel zu und sagte: "Sie treten die Haftstrafe sofort an."

   Später sagte Gomulka: "Warum macht er so ein Theater? Meint er, das imponiert mir?" Vetter teilte schon wieder Karten aus. Wolzow legte sich auf die Pritsche und las in seinem Taschenbuch.

   Am Nachmittag wurde die Zelle geöffnet, und General Wolzow trat ein. Er winkte mit der Hand, und der Aufseher schloss hinter ihm die Tür. "Gilbert", sagte er scharf, "es ist das letzte Mal, dass ich deinetwegen als Bittsteller herumgeh! Ich mache keinen Finger mehr krumm! Verstanden?" Wolzow erhob sich von seiner Pritsche, die anderen standen stumm und betreten, eingeschüchtert durch all das Gold und die Orden an der Generalsuniform... "Habe dafür gesorgt, dass ihr arbeiten werdet", sagte der General versöhnlicher. "Holzhacken, Schlackeladen."

   Am anderen Tag wurden sie auf den Hof geführt. Sie zersägten mannstarke Kiefernstämme und spalteten Brennholz. Während der Arbeit hörten sie von schweren Luftangriffen auf Berlin. Die Deutschen an Rhein und Ruhr seien das Beispiel, dem es nachzueifern gelte.

   Eine Woche später wurden sie entlassen.

   Es war ein schwüler, regenfeuchter Spätsommertag. Die Schwestern Dengelmann empfingen Holt mit Gezeter und Vorwürfen. Holt ging auf sein Zimmer. Die Tage der Haft hatten ein Gefühl der Leere und des Katzenjammers in ihm zurückgelassen. Auf dem Tisch lagen ein paar Briefe, von seiner Mutter, dazwischen ein grauer Umschlag, gestempelt: "Frei durch Ablösung Reich." Er riss den Umschlag auf. "Sie werden im Rahmen... Dienst als Luftwaffenhelfer... Schulklasse... haben sich am 14. September... Großkampfbahn. ."

   Endlich! Er riss die Tür auf und brüllte durchs Haus: "Es geht los! Montag geht´s los!"

   Er lief zu Wolzow. Auf dem Weg dachte er an Uta. Er blieb vor der Barnimschen Villa stehen. Aber dann fiel ihm ein, wie Uta grußlos gegangen war, und er lief weiter. Wolzow öffnete, eine Rotweinflasche in der Hand. Er sagte: "Eben ist es durch den Rundfunk gekommen, dass Italien am 3. September heimlich kapituliert hat. Verrätergesindel!"

   Holt ließ den Brief sinken. Er erschrak so sehr, dass der Brief in seiner Hand zitterte.

   "Dabei hatten die doch gar keinen Grund", sagte Wolzow. "Wenn man mit Großdeutschland verbündet ist, braucht man doch nicht zu kapitulieren!" Er drückte Holt die Rotweinflasche in die Hand. "Prost!" Dann erzählte er: "In Italien muss allerhand los sein. Der Duce ist entführt worden, sie haben eine neue faschistische Nationalregierung ausgerufen, und wir übernehmen jetzt allein den Schutz der europäischen Küsten... Komm." Er schloss das Haus ab. "Jetzt gehen wir aufs Wehrbezirkskommando und melden uns freiwillig! Dann zu Sepp und Christian. Die Einberufung muss gefeiert werden."

   Sie trafen Vetter auf dem Markt, mit Augen, die vom Weinen gerötet waren. "Mein Alter hat mich ganz furchtbar gehaun", sagte er, während ihn noch der Bock stieß, "aber aus Rache hab ich meiner Sippe sämtliche Raucherkarten geklaut! Hier, da hol ich mir jetzt 'Attika-Auslese' oder 'Nil' ..." Sie begleiteten ihn in einen Tabakladen. Eine Frau, die nach ihnen das Geschäft betrat, schimpfte ungeduldig: "Beeilen Sie sich doch! Ich muss nach Hause! Der Führer spricht!"

   Die Formalität auf dem Wehrbezirkskommando war rasch erledigt. Holt, durch die Nachrichten aus Italien deprimiert, beschloss, nun doch Uta zu besuchen.

   Am Nachmittag stand er lange unschlüssig und mutlos vor dem Haus. Dann klingelte er. Er wurde ins Obergeschoß geführt. Uta lag in ihrem Zimmer auf der Couch und las. Als Holt eintrat, blickte sie flüchtig von ihrem Buch auf. "Ach... Die Strafe schon verbüßt?"

   Der frostige Empfang enttäuschte ihn. "Ich wollte... ich möchte..." Er sagte hilflos: "Um Verzeihung bitten möcht ich Sie." Er lehnte sich gegen diese Demütigung auf. "Ich war... ungehörig, ich dachte..." Die Auflehnung erlosch, er war bereit, sich noch tiefer zu demütigen, aber sie lächelte so spöttisch wie noch nie. "Was reden Sie da? Ungehörig benommen? Nicht dass ich wüsste." Sie erhob sich, das Buch fiel zu Boden. Sie trat ans Fenster und sah gelangweilt hinaus. "Sie sollten sich nicht so schrecklich wichtig nehmen, mein Junge."

   Auf einmal stieg Wut in ihm hoch. Er deutete eine Verbeugung an, dann stand er draußen vor der Tür und sah nicht mehr ihr erstauntes Gesicht. Als er unten durch die Diele ging, hörte er sie oben rufen: "So warten Sie doch!", aber er verließ das Haus. Nur fort!

   In der Halle der Wolzowschen Villa fand er die halbe Klasse versammelt. "Der wilde Jäger!" schrie Rutscher, als er Holt eintreten sah. "Sepp hat grad von dem Hirsch erzählt!"

   Holt sah sich um. Er begriff, dass man hier die Einberufung feierte, mit Schnaps... Das kam ihm recht. Sein Zorn über Uta war längst verraucht, er war nun todunglücklich.

   Alles brüllte durcheinander. "Der Gilbert ist in die Schule gegangen, und zum Hausmeister hat er gesagt, aus´m Heizungskeller kommt Qualm! Da ist der in ´n Keller gelaufen, und Gilbert hat den Schlüssel genommen und ist in ´n Chemieraum." - "Ich! Ich!" rief Zemtzki. "Ich war dabei! Der Gilbert hat die Spritflasche an einem Bindfaden auf´n Hof runtergelassen, und ich bin damit über die Mauer!" - "Und ich", erzählte Wolzow, "bin wieder zum Hausmeister und hab gesagt, da müsste ich mich wohl getäuscht haben, wenn aus dem Heizungskeller kein Qualm käm, aber vielleicht käm Qualm aus dem Keller unter der Turnhalle... Da ist der Kerl gleich wieder losgetrabt, und ich hab den Schlüssel wieder an´n Haken gehängt und bin ganz gemütlich abgehaun!" - "Wir haben prima Likör gemacht, mit fünfzig Prozent!" sagte Vetter schwerfällig.

   Holt setzte die Flasche an die Lippen. Das lauwarme klebrige Getränk brannte in der Kehle. Er nahm einen zweiten Schluck, einen dritten... Langsam wurde ihm brennend heiß, es wurde ringsum weit und hell... Wolzow schleppte Rotweinflaschen heran. "Trink, Werner!" Holt trank, alle tranken. Kummer und Zorn lösten sich. Zum Teufel mit Uta! Jemand brüllte: "Kameraden! Es geht los!" Holt trank aus der Rotweinflasche, das Leben war wieder leicht. "Nieder mit Badoglio!" schrie jemand. "Wir werden den F-f-führer nie im Stich lassen!" - "Niemals", brüllte Holt, alle brüllten: "Niemaaaals !" Wolzows dröhnende Stimme: "Ein Wahrzeichen nur gilt: das Vaterland zu retten!" Das ist die Ilias, dachte Holt noch, und ganz fern und schwach dämmerte die Erkenntnis: Ich bin betrunken... Dann ging alles durcheinander: Stimmenlärm, Geschrei, Gelächter, zum Teufel mit Uta... Die Bilder überstürzen sich. die Halle in Wolzows Villa, eine Straße, Marktplatz, und Wolzow trägt einen langen, dünnen Kaktus im Knopfloch, einen Kaktus, das ist zum Totlachen... Zemtzki hat plötzlich einen Zylinder auf, wo hat er den Zylinder her? ... Was grinsen denn die vielen Leute?... Um Gottes willen, der Bannführer. Und natürlich brüllt er, schert euch nach Hause... Wer fasst mich da am Arm? Wiese? Der ewige Miesepeter, Drückeberger... Was ist los? Betrunken? Na ja doch, ich komm ja schon!

   Holt erlebte den traurigen Zustand zum ersten Mal, und er lag am nächsten Tag wie betäubt in seinem Bett. Der Kopf schmerzte. Im Magen war ein übles, rebellisches Gefühl. Er fand sich nicht zurecht. Die Sonne schien von links ins Zimmer, also war es früher Nachmittag. Fräulein Dengelmann, Veronika, die Jüngere, den Kopf voll Lockenwickel, stand am Bett und brachte Tee. Sie zeterte: "So eine Schande... Mit sechzehn Jahren stockbetrunken! Und das ganze Stiegenhaus haben Sie vollgebrochen!" - "Raus!" sagte Holt schwach. "Ich bin krank..." - "Verkatert sind Sie!" sagte Veronika schadenfroh. "Sie solln rausgehn!" rief Holt. Dann war er allein und kostete den heißen Pfefferminztee. Bruchstücke der Erinnerung fügten sich zusammen. Was haben wir da bloß angerichtet!

   Er stand auf. Wie bin ich ins Bett gekommen? Vor dem offenen Fenster machte er seine Kniebeugen; es klopfte. Peter Wiese trat ein. "Wie geht´s dir?" fragte er.

   "Danke...", brummte Holt. "Mensch... Was ist gestern bloß passiert?" - "Ihr wart alle betrunken", sagte Wiese mit leisem Vorwurf. "Auf dem Marktplatz seid ihr dem Bannführer in die Arme gelaufen. Er hat die Polizei holen lassen. Ich kam zufällig vorbei und hab dich grad noch wegbringen können, in dem Durcheinander hat´s keiner gemerkt."

   "Hab ich mich zu dir recht unverschämt benommen?" fragte Holt kleinlaut. "Es geht." Wiese lächelte schwach. "Das Ãœbliche. Drückeberger, Leisetreter, Miesepeter."

   "Tut mir aber wirklich leid", sagte Holt. - "Schon gut." Wiese langte in die Brusttasche. "Uta Barnim hat mich gebeten, dir einen Brief zu bringen."

   Holt trat zum Fenster und drehte Wiese den Rücken zu. "Lieber Werner", stand da in einer energischen Handschrift, "ich habe Sie gestern nicht kränken wollen, aber es war nicht recht, dass Sie gleich davongelaufen sind. Nun habe ich von Ihrer Einberufung gehört. Wenn Sie an Ihrem letzten Wochenende als Zivilist nichts Besseres vorhaben, so sind Sie herzlich eingeladen, am Samstag mit mir zu unserem Landhaus hinauszufahren. Das Wetter verspricht warm zu bleiben. Auch dort sind die Wälder nicht ohne Schönheit, wenngleich es leider keine Höhle gibt..." Er lachte, ihr Spott machte ihn glücklich. "Kommen Sie also Samstag nicht später als zwölf, und lassen Sie mich durch Peter Ihre Antwort wissen."

   "Was soll ich ihr sagen?" fragte Wiese. "Ich komm", entgegnete Holt.

   Wiese ging. Holt überlegte: Blumen muss ich ihr bringen! Rosen, Astern, Nelken, das hat sie alles selbst. Er erinnerte sich an Doktor Zickels Orchideenhaus in der Schulgärtnerei. Ich muss einbrechen, dachte er... Aber als er eine Stunde später über den Zaun spähte, sah er ein halbes Dutzend Menschen beschäftigt, und nachts, als er es abermals versuchte, lief eine große Dogge in der Gärtnerei umher. Dann muss ich eben den Hund vergiften, dachte er, aber die Orchideen muss ich haben!

   Er versuchte es am Sonnabend früh wieder, und tatsächlich fand er die Treibhäuser unbewacht.

   Er hatte schon seine Sachen zusammengepackt, denn die Schule hatte ihm für den Montagmorgen eine Einladung zur "feierlichen Verabschiedung der Klasse VII zum Luftwaffendienst..." geschickt.

   Die Schulgärtnerei lag weit draußen. Holt setzte über den Zaun. Er eilte gebückt zwischen den hohen Spargelbeeten hindurch zum Orchideenhaus.

   Schwüler Duft umfing ihn. Von der Decke hingen Bastkörbe, aus denen bizarre Gebilde hervorwucherten; auf fauligen Baumstämmen leuchteten Blüten, auch zwischen Moosen und Farnwedeln... Er zog das Messer aus der Hose und schnitt sich die schönsten Blüten ab, langstielige, schneeweiße Sterne mit zartroten Innenblättern: "Paphiopedilum villosum, Our King", las er auf dem Schild. Er verließ das Treibhaus und gelangte unangefochten aus der Gärtnerei.

10

   Vor der Barnimschen Villa hielt ein offener Jagdwagen; der Kutscher hängte den beiden braunen Pferden Futtersäcke um. Holt klingelte ungeduldig; er nahm zwei Treppenstufen auf einmal. Uta stand vor dem Spiegel. Er hielt ihr wortlos die Orchideen hin.

   "So etwas Schönes hab ich noch nie gesehn", sagte sie und drehte ihm rasch wieder den Rücken zu. Sie kämmte sich. Er sah ihr zu, wie sie das schwere Haar um den Kopf wand und feststeckte.

   Sie verließen das Haus. Der alte, gebrechliche Kutscher kletterte wortlos auf den Bock und trieb die Pferde an; der Wagen rollte die Allee entlang und bog hinter den letzten Häusern in einen Feldweg ein, rollte weiter durch abgeerntete Äcker, bergan und bergab, und dann eine Stunde lang durch Mischwald. Uta erzählte. Als ihr Vater zur hiesigen Garnison kommandiert worden sei, habe er ein Haus in der Stadt und weit draußen ein Wochenendhaus gemietet. Pferde und Wagen, dieser und ein Dogcart, stünden bei einem Bauern im nahen Dorf. Zu Hause sei sie im Schwarzwald.

   Das Haus lag am Waldrand, ein zweigeschossiges Holzhaus auf einem Sockel von Natursteinen. Ringsum stand der verwilderte Wald. Holt folgte Uta in die Diele, dort führte ihn eine mürrische alte Frau ins Obergeschoß und wies ihm ein Zimmer an, das nur mit eisernem Bett, Waschtoilette und Schrank eingerichtet war. Eichen und Kiefern streckten ihre Äste bis an das geöffnete Fenster. Die Frau öffnete die Tür einen Spalt und winkte.

   Aus dem gegenüberliegenden Zimmer trat Uta. In der Diele saßen sie einander am Esstisch gegenüber. Die Frau trug Pellkartoffeln auf und eine Schüssel mit saurer Sahne. Das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln drang durch die geöffnete Tür, die zu ebener Erde in den Wald hinausführte.

   Sie verließen das Haus. Im Tal zwischen Feldern lag das Dorf. Ein milder Spätsommerabend sank herab. Spinngewebe glänzte auf Farnwedeln und Schlehdorn, durch die Luft schwebten die Fäden des Altweibersommers.

   Uta ging einen halben Schrift voraus. Am Waldrand setzte sie sich ins Gras. Brombeersträucher und Haselbüsche ließen den Blick nur nach Westen hin frei; über den Bergen spielte der Himmel mit allen Farben. Von der Lichtung her strich mit dem Wind der Geruch von Heu über sie hin. Er legte den Arm um ihre Schulter, sie ließ sich rücklings ins Gras sinken. Später saß er neben ihr und sah das Farbenspiel am Horizont verlöschen. Sie hielt die Augen geschlossen. Es dunkelte. Sie fröstelte. Als sie das Haus erreichten, war es Nacht.

   In der Diele stand ein Abendessen bereit. Uta brachte einen Korb frischer Tomaten. Beim Essen sagte sie übergangslos: "Was du von deinem Vater erzählt hast, interessiert mich. Er hat sich also lieber maßregeln lassen, statt an einer kriegswichtigen Arbeit mitzuwirken?"

   Er sah sie verwundert an. Ihre Stimme klang fremd und sachlich. "Solche Charaktere hätte es mehr geben müssen."

   "Das versteh ich nicht", sagte er.

   Um ihre Mundwinkel bebte es wieder wie Spott. "Was brauchst du nach Stalingrad noch, um aufzuwachen?"

   Er machte eine unwillige Kopfbewegung. Er zwang sich zur Ruhe. Dann sagte er wieder: "Ich versteh dich nicht... Und... Deutschland?" Er rief: "Was wird aus Deutschland?"

   Sie sah ihn lange an. "Vergiss, was ich sagte." Sie schob den Teller von sich. "Vergiss es. Du musst in den Krieg. Er kann noch lang dauern." Sie sah durch ihn hindurch. "Die Wahrheit ist für euch zu schwer: es ist ja doch alles umsonst." Ihr Blick fasste ihn verwirrend und streng. "Du musst dieses Wochenende vergessen." Sie zögerte. "Es kann sein, dass ich bald heirate. Also bitte. Vergiss alles." Aber hingestoßen und liegengelassen zu werden, dagegen lehnte er sich auf: "Ich muss in den Krieg. Du zerrst mir den Boden unter den Füßen weg... Dann..."

   Sie fasste, in eigenartiger Geste, mit der linken Hand an den Hals und horchte hinter dem abgebrochenen Satz her.

   "Dann lass mich heut Nacht zu dir", sagte er.

   Sie erhob sich so ungestüm, dass auf dem Tisch Geschirr zusammenstieß.

   Er hörte im Obergeschoß eine Tür schlagen. Er saß verstört und frierend. Dann schloss er die Fenster und löschte das Licht.

   Es war totenstill im Haus. Er stand bewegungslos in seinem Zimmer.

   Er kämpfte um einen Entschluss.

   Er trat hinaus auf den Flur. Noch einmal blieb er sekundenlang stehen, vor der gegenüberliegenden Tür. Dann drückte er die Klinke nieder. Die Tür gab nach.

   Durch das geöffnete Fenster fiel schwaches Licht. Sie schlang beide Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich in die Dunkelheit. Aber er sah ihr Gesicht unter sich, die weitgeöffneten Augen. Das Zucken ihrer Mundwinkel verriet, dass er ihr Schmerz bereitete. Lust und Schmerz.

   Er blieb bei ihr, bis es hell wurde. Der heraufdämmernde Tag war nichts anderes als ein Lichtfleck zwischen zwei Nächten. Er nahm zum ersten Mal mit vollem Bewusstsein den Anblick lebendiger Schönheit in sich auf, und sie verbarg sich nicht vor ihm.

   Doch ein anderes Bild, so unvermittelt, dass er sekundenlang erstarrt neben ihr lag, schlug in seine Gedanken hinein: Phosphor. Furchtbare Wunden. Körper zu schwarzen Strünken verbrannt.

   Er vergrub das Gesicht in ihrem Arm. Später hörte er sie sprechen: "Ich hab mich gegen dich gewehrt. Aber es soll so sein. Es ist Krieg. Wir wissen nicht, was kommt."

   Auf den ersten Stuhlreihen in der Aula hatten die Schüler der Klasse VII Platz genommen, in HJ-Uniform. Holt saß in der dritten Reihe, hinter Wolzow, unter einem der spitzbogigen Fenster. Er war zu spät gekommen. Der Oberstudiendirektor hatte seine Rede schon begonnen. Holt hörte nicht zu. Wir sehen uns noch am Bahnhof! Er war aus dem Dogcart gesprungen und losgerannt. Wir sehen uns noch. Der Traum dauerte eine Stunde fort. Er sah noch einmal, wie der Gaul mit dem zweirädrigen Wagen durch die Felder stob. Mit geschlossenen Augen horchte er weiter zurück: Hab ich's nun einmal getan, so will ich's auch ganz tun!

   Man applaudierte. Nun dröhnten die Schritte benagelter Sohlen übers Parkett. Bannführer Knopf stieg auf das Rednerpult. "Kameraden!" Zemtzki, der eingeschlafen war, fuhr erschrocken hoch. Knopf hatte eine scharfe Kommandostimme. "In ernster Stunde ruft der Führer seine Jugend zum Einsatz... an der Ostfront ein tödlich angeschlagener Feind gigantische Anstrengungen unternimmt, den eisernen Würgegriff loszuwerden..." Vetter schneuzte sich laut, aber Wolzow fuhr auf ihn los: "Hör auf! Jetzt hat Disziplin zu herrschen!" - "... wie der Führer vor wenigen Tagen in seiner herrlichen Rede sagte... der Luftkrieg... technische und organisatorische Voraussetzungen sind im Entstehen, die Terrorangriffe endgültig zu brechen und auch zu vergelten! Bis dahin, Kameraden, ist es euch vergönnt, den deutschen Luftraum zu schützen!" Der Bannführer klirrte vom Podium herab und drückte jedem einzelnen die Hand.

   Am Ausgang standen die Lehrer beisammen. Doktor Zickel spuckte: "Kh-kh... kh! Ni wahr, wenn ich das so seh, das sin doch noch Kinder, ni wahr, kh ... kh ... dass die schon in 'n Krieg solln, e Jammer is es!"

   Auf der Straße liefen Eltern und Verwandte zum Bahnhof voraus. "Nichts in der Welt bringt mich je wieder in ein Schulhaus!" sagte Wolzow. Der scharfe Pfiff einer Trillerpfeife gellte über den Platz. "Achtung! In Linie... angetretenmarschmarsch!" Das war Otto Barth. Und am Bahnhof wartete Uta.

   Holt marschierte in der Kolonne, singend: "Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt..." Es war nicht weit bis zum Bahnhof. Der Zug lief ein. Endlich konnte sich Holt absondern. Er suchte. Weit abseits von der Menge stand sie vor der dunklen Ligusterhecke, die Vorplatz und Bahngelände schied.

   Er sagte: "Ich hab's nicht abwarten können, dass es losgeht. Jetzt möcht ich bei dir bleiben." - "Das würde dir bald langweilig werden, wenn´s immer so bliebe", antwortete sie, aber sie sah an ihm vorbei.

   Die Lok pfiff, der Zug ruckte an. Ihr Händedruck ließ eine kleine Pappschachtel in seiner Rechten zurück. Er riss sich los. Ãœber die Hecke, über die Geleise sprang er zum anfahrenden Zug. Gomulka zog ihn in den Wagen. Jemand brüllte den Gang entlang: "Sondermeldung! Die Fallschirmjäger haben den Duce befreit!" Holt nahm diese Worte wahr, ohne sie zu verstehen.

   Im Schneckentempo kroch der Zug durch die Berge. Holt blieb auf dem Gang. Neben ihm, steif und unbeweglich, stand Gomulka.

   Holt öffnete die kleine Schachtel. Auf schwarzem Samt lag ein Kettchen, ein ziseliertes goldenes Kreuz. Er las mühsam die winzige Gravierung, die Jahreszahl 1692, und altertümliche Schriftzeichen: "Die Lieb ist unser Gott, es lebet alls durch Liebe. Wie seelig wär ein Mensch, der stets in ihr verbliebe." Dies war als einziges von ihr geblieben. Und Erinnerung.

   Vor dem Fenster zog das Gebirge vorbei; tief unten schimmerte das Band des Flusses. Mit wachsender Geschwindigkeit rollte der Zug zu Tale. Holt riss die Abteiltür auf und drückte sich in eine Ecke. Im Einschlafen hörte er Vetter sagen: "Jetzt sind wir frei wie diese Fli-bus-tier!"


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