zum Gedenken
Vergast: Warum in Pirna Kinder sterben mussten

Erschienen am 09.03.2019

Es berichtet Erik Kiwitter

Nach einem Geheimerlass Hitlers vor 80 Jahren haben Ärzte und Pfleger in der sächsischen Kleinstadt Pirna fast 15.000 behinderte oder kranke Menschen ermordet. Eine Gedenkstätte gibt heute den Opfern ihre Würde zurück. Warum das für viele Angehörige so wichtig ist.

Christa Gabriel (1933 - 1940). Die Nazis haben das Mädchen aus Dresden am 2. Oktober 1940 ermordet. Das Foto entstand in einer Einrichtung der Inneren Mission. - Quelle: Bundesarchiv

Pirna - Die Hölle, die der kleinen Christa bevorstand, war ungefähr 12 Quadratmeter groß, Warteraum, Leichenkeller und Krematorium nicht mit einbezogen. Im Warteraum wusste sie noch nicht, was ihr drohte, und die Pfleger machten dort schnell noch ein Passfoto von dem Kind für die Krankenakte. In Leichenkeller und Krematorium, da war die Qual vorbei. Die Hölle, die die kleine Christa durchgemacht hat, war die Gaskammer, die war das Schlimmste. Da stemmte sich der Körper des sechsjährigen Mädchens mit aller Verzweiflung gegen das hereinströmende Kohlenmonoxid - bis er tot war.

Die Nazis haben Christa Gabriel aus Dresden am 2. Oktober 1940 vergast, weil sie im Gegensatz zu ihrer gesunden Zwillingsschwester Sigrid eine geistige Behinderung hatte. Es war die böse Zeit des gesunden Volkskörpers, psychisch Kranke oder geistig Behinderte galten als überflüssige Esser, die mussten weg. Als die Leiche des Kindes dann verbrannt und der Rauch durch den Schornstein abgezogen war, landeten Asche und Knochenreste auf dem steilen Elbhang, der sich direkt an das Gebäude C 16 anschloss, in dem das Kind getötet wurde. Wenn die Bäume hier oben kein Laub tragen wie jetzt in dieser Jahreszeit und man zwischen ihnen hindurchschauen kann, dann reicht der Blick weit über die Elbe hinweg in die schöne sächsische Kleinstadt Pirna. Der liebe Gott hat es hier gut gemeint mit der Natur, das ist gar keine Frage. Nur der Mensch nicht mit seiner eigenen.

Die ehemalige Gaskammer ist heute Teil der seit dem Jahre 2000 existierenden Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Die Stille hier unten hat die Zeit angehalten. In einer Ecke in Gedenken an die vielen Opfer eine brennende Kerze. An manchen Tagen, wenn draußen über der Elbe die Sonne scheint, ist das Fenster auf, nur dann dringt etwas Vogelgezwitscher herein und viel frische Luft noch dazu, die die Lebensgeister weckt. Die Verbrechen der Nazis werden häufig mit großen Worten beschrieben - barbarisch und abscheulich, grauenvoll und entsetzlich. Das stimmt ja auch. Steht man aber in diesem schmalen, düsteren Keller und weiß, genau an dieser Stelle wurden neben der kleinen Christa weitere 14.750 hauptsächlich kranke oder behinderte Menschen vergast, dann werden diese Worte ganz klein. "Sie können das wahre Ausmaß nicht beschreiben", sagt Boris Böhm.

Der Historiker hat sein Büro oben im zweiten Stock desselben Hauses. Wenn er jeden Morgen um neun Uhr den alten Bau aus der Kaiserzeit betritt und hoch in sein Dienstzimmer will, muss er an der Tür vorbei, die acht Stufen hinab in die Gaskammer führt. Böhm ist der Mann, der das ganze große Elend der fast 15.000 Toten zu verwalten und aufzuarbeiten hat, im Grunde ein trauriger Job. Natürlich macht er das nicht allein. Böhm hat drei Mitarbeiter, und es gibt auch ein Kuratorium, das sich der Pflege der Gedenkstätte und der Ausstellung verschrieben hat. Aber Böhm als Leiter der Einrichtung spielt bei der Aufarbeitung der sogenannten Krankenmorde 1940 und 1941 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein eine wichtige Rolle. So war er zum Beispiel maßgeblich an zwei in Historikerkreisen viel beachteten Werken beteiligt. In der DDR wurde das Thema kaum behandelt. Inzwischen - fast 20 Jahre nach Eröffnung der Gedenkstätte - gibt es ein umfassendes, wissenschaftlich fundiertes Bild zu diesem Thema. "Nirgendwo in Sachsen sind die Nationalsozialisten bei der Vernichtung von Menschen derart systematisch und organisiert vorgegangen wie hier", fasst Böhm zusammen.

Dabei sollte die Öffentlichkeit einst von der ausgeklügelten Tötungsmaschinerie so wenig wie möglich mitbekommen. So hatte Hitler aus außenpolitischen Gründen ein sogenanntes Euthanasie-Gesetz auch abgelehnt. Dafür aber erließ er auf einem Privatbriefbogen 1939 eine Art geheimer Anordnung, mit der bestimmte Ärzte ermächtigt wurden, unheilbar Kranken "den Gnadentod" zu gewähren. In Wahrheit hatten die Nazis aber nichts anderes vor, als für den geplanten und unmittelbar bevorstehenden Weltkrieg "notwendigen Lazarettraum" zu schaffen und "unnütze Esser" zu beseitigen. So hat sich Reichskanzlei-Leiter Philipp Bouhler einmal vor Medizinern ausgedrückt, die in den Vernichtungsplan eingeweiht worden waren. Bis 1939 hatte sich im Gebäude C 16 in Pirna-Sonnenstein ein psychiatrisches Männerkrankenhaus befunden - jetzt begann im Keller der Bau von Gaskammer und Krematorium und ab 1940 nach bestimmten Kriterien wie zum Beispiel mangelnde Arbeitsfähigkeit die massenweise Deportation von kranken oder behinderten Kindern und Erwachsenen nach Pirna.

Boris Böhm, der nun seit fast zwei Jahrzehnten sein Büro nur ein paar Meter über der ehemaligen Gaskammer hat, ist ein ruhiger Endfünfziger mit Brille, große Worte und übertriebene Polemik sind nicht seine Sache. Davon abgesehen hat der Wissenschaftler ohnehin eine gesunde Distanz zum Gegenstand seiner Untersuchungen einzuhalten. "Aber manchmal ist das gar nicht so einfach. Wenn man die Fotos der Opfer sieht, dann geht das einem schon unter die Haut", sagt Böhm. Wenn es ihm einmal zu viel wurde, stand er auf von seinem Schreibtisch und ging an die frische Luft. Irgendwann kam er auf die Idee, Opfern ein Gesicht zu geben. Mit Hilfe von erhalten gebliebenen Krankenakten entstand eine kleine Schriftenreihe; in jeder der etwa zehnseitigen Broschüren wird das Leben eines Menschen geschildert, der in Pirna-Sonnenstein getötet wurde, auf dem Cover sein Porträtfoto. Inzwischen gibt es 34 dieser Hefte, weitere folgen.

Historiker Boris Böhm vor dem Denkmal für die Euthanasie-Opfer, einem gespaltenen Kreuz, in Pirna-Sonnenstein. Rechts Lissa Flade, deren Mutter Selma Marka Henker in der Gaskammer getötet wurde. Foto: Erik Kiwitter

So hat auch Christa Gabriel gewissermaßen ihr kleines Denkmal bekommen. Ihre Biografie schildert aber auch, was für ein schwerer Leidensweg ihr kurzes Leben war. Die Aufnahme, die sie in einem Kinderstühlchen zeigt, entstand im Katharinenhof, einer Einrichtung der Inneren Mission für geistig behinderte Kinder in Großhennersdorf. Es existiert noch ein Brief aus dem Jahre 1937, den der leitende Arzt an die Eltern geschrieben hat, in dem es unter anderem heißt: "Wir haben das Paket für Ihre kleine Christa erhalten. Strümpfe, Handschuhe und Strumpfbänder passen. Keks und Schokolade hat sie sich gut schmecken lassen. Sie ist ein kleines, zartes Ding, das oft weint." Und häufig krank war und Heimweh hatte nach den Eltern und der Schwester.

Ihr Schicksal war am 27. September 1940 besiegelt. Es war der Tag, an dem das Mädchen in die Landesanstalt Großschweidnitz verlegt wurde. Die Einrichtung galt als eine Art Zwischenlager, wer in dieser Zeit hierhergebracht wurde, gehörte zu jenen, die für die Gaskammer bestimmt waren. Am Morgen des 2. Oktober musste Christa Gabriel mit 38 weiteren Kindern und Jugendlichen in einen großen, grauen Bus einsteigen. Die Fahrt ging in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Noch am selben Tag waren alle tot. Zwei Heizer zogen ihre leblosen Körper nach der Vergasung in den benachbarten Leichenkeller, bevor sie nacheinander im Krematorium verbrannt wurden.

Für viele Hinterbliebene ist die Gedenkstätte zu einem würdevollen Ort geworden, an dem sie um ihre getöteten Angehörigen trauern können. "Für mich hat sich hier ein Kreis geschlossen", sagt Lissa Flade aus Pirna. Die Frau ist schon 88, aber sie wirkt noch mopsfidel, und wenn sie über ihre Mutter Selma Marka Henker redet, hat sie häufig Tränen in den Augen. "Mein Muddel wäre froh, wenn sie wüsste, dass ich so oft hier bin", fügt die alte Dame noch hinzu. Ihre Mutter litt an Depressionen, und als Pirna-Sonnenstein noch eine richtige Heilanstalt war und keine Hinrichtungsstätte, wurde sie hier als Patientin aufgenommen. Lissa Flade hat ihre Mutter hier als Kind zwei oder dreimal mit ihrem Vater besucht. "Wir hatten immer Hoffnung, dass sie wieder gesund wird und nach Hause kommt", erinnert sich die Rentnerin.

Aber die Mutter kam nicht mehr nach Hause. Irgendwann wurde sie in eine andere Anstalt verlegt, und eines Tages hielt Lissa Flades Vater einen Brief in seinen Händen, in dem stand, dass seine Frau trotz aller ärztlichen Bemühungen in einer Anstalt bei Linz verstorben sei. Aber das war eine Lüge: Wie viel später aus Krankenakten hervorging, wurde Selma Marka Henker in Pirna-Sonnenstein vergast.

Ihre Tochter engagiert sich heute in dem Kuratorium zur Förderung der Gedenkstätte. Oft steht sie in der ehemaligen Gaskammer, für sie ist dieser Ort das Grab ihrer Mutter. Lissa Flade sagt: "Manchmal ertappe ich mich bei der Frage, an welcher Stelle mein Muddel genau lag, als sie starb."


Die Gaskammer

Der Ort des Grauens. Pfleger und Schwestern führten jeweils 20 bis 30 entkleidete Personen - Frauen und Männer getrennt - in die Gaskammer. Das Personal schloss die Stahltür, ein Arzt öffnete im Nebenraum die Ventile der Kohlenmonoxid-Flaschen, sodass das Gas über ein Rohrleitungssystem in den Raum strömen konnte. Ein Arzt beobachtete den Todeskampf der Opfer durch ein kleines Sichtfenster. Vor dem größeren Fenster war im Inneren der Gaskammer ein Gitter angebracht, um zu verhindern, dass es die Opfer während ihres Todeskampfes öffnen konnten. Die beiden Verbrennungsöfen in einem der Nachbarräume wurden von der Berliner Firma Kori hergestellt, die auch Krematorien für Bergen-Belsen oder Majdanek baute. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg das Unternehmen auf Zentralheizungen um. 2003 stellte es die Produktion ein.


Die Tötungsanstalten

Pirna-Sonnenstein war nicht die einzige Tötungsanstalt in Verbindung mit den Krankenmorden. Es gab fünf weitere, zum Beispiel in Brandenburg und Grafeneck (bei Reutlingen). Nach Pirna-Sonnenstein kamen über sogenannte Zwischeneinrichtungen hauptsächlich Patienten aus den sächsischen Heil- und Pflegeeinrichtungen. Aus der Landesanstalt Chemnitz-Altendorf wurden 232 Patienten in Pirna-Sonnenstein ermordet, aus der Landesanstalt Untergöltzsch, dem heutigen Sächsischen Krankenhaus Rodewisch, 344 Patienten.

Im August 1941 stoppte Hitler die Ermordungen in der Gaskammer, nachdem unter anderem Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Münster, öffentlich gegen die Krankenmorde protestiert hatte. Zudem war der Betrieb der Tötungsanstalten vor der Bevölkerung nicht mehr geheimzuhalten. Allerdings wurden die Morde mit starken Beruhigungsmitteln fortgesetzt. Später ermordeten die Nazis auch Bewohner von Altenheimen.


Die Täter

1947 standen 19 Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern vor dem Landgericht Dresden. Zwei Ärzte und zwei Pfleger wurden zum Tode verurteilt, darunter auch Pfleger Erhard Gäbler (Foto), der die Opfer in die Gaskammer führte und die Stahltür schloss. Die Richter sahen als erwiesen an, dass er sich bewusst war, es ging um eine Ermordung und nicht um eine Sterbehilfe. Zudem gab es keine expliziten Befehle, sich an der Tötung zu beteiligen.


Die Gedenkstätte

Die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Schlosspark 11, ist Montag bis Freitag von 9 bis 16 Uhr und am Wochenende von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Exemplare der Schriftreihe "Den Opfern ihren Namen geben" sind ebenfalls gratis.

Telefon: 03501/710960


Der Artikel ist aus der FP vom 09. März 2019


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