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30.11.2025, 17.06 Uhr o aus DER SPIEGEL 49/2025
Foto: Mario Wezel / DER SPIEGEL
Eine Fünfjährige, ohne Eltern. Sie ist unterwegs mit Dutzenden anderen Kindern, sogar noch jüngeren, die sie nicht kennt, die auch allein sind. Nach stundenlanger Fahrt im eiskalten Zug und auf der Fähre kommen sie im "Seehospiz Kaiserin Friedrich" auf Norderney an. Viele haben geweint bis zur Erschöpfung, viele haben Heimweh. Dunkel gekleidete Diakonissen stehen zum Empfang da, auch ein Mann im Arztkittel.
"Was hat denn die da?", fragt eine der Frauen mit scharfer Stimme und mustert die Fünfjährige mit den rotgeweinten Augen. "Die muss erst mal in Quarantäne", sagte eine andere. "Nee, die ist nur hysterisch", erwidert die erste.
Diese eiskalte Begrüßung ist die erste Erinnerung ans "Seehospiz" im Januar 1965, von der Annette Lücking, die hier nur mit ihrem Mädchennamen erscheinen möchte, erzählt. Es ist ein sonniger Tag im Oktober, und Lücking, 66, sitzt auf dem Oberdeck der "Frisia III". Sie ist auf dem Weg nach Norderney - 61 Jahre, nachdem sie zum ersten Mal hier war.
Lücking will sich dem stellen, was sie "die drei dunklen Monate" nennt, "die dunkelste Zeit meines Lebens". Sie fährt auf die Nordseeinsel, auf der sie als Fünfjährige eine sogenannte Verschickungskur verbrachte. Lücking hat fast keine Unterlagen über diese Zeit, nur Erinnerungen. Der SPIEGEL begleitet sie bei ihrer Suche nach Antworten, ebenso zwei weitere Betroffene: Eine Mutter, deren dreijähriger Sohn André 1969 auf einer Verschickung in Bad Salzdetfurth starb, und einen 79-Jährigen, dessen Bruder Dieter vor mehr als 70 Jahren an die Ostsee verschickt wurde und nie zurückkehrte.
Annette, André, Dieter. Drei von schätzungsweise rund elf Millionen Jungen und Mädchen, die in der Bundesrepublik bis 1990 an Programmen zur Kinderverschickung teilnahmen. Wochen-, manchmal monatelang wurden sie, in der Regel auf ärztlichen Beschluss hin, in die Ferne geschickt, oft ohne Kontakt zu den Eltern. Die Verschickungskuren versprachen gesundheitliche Stärkung, ausreichend Essen und frische Luft.
Erst nach und nach werden die Dimensionen des Leids deutlich, das viele dieser Kinder erlebten. Eine im Mai veröffentlichte groß angelegte Studie der Berliner Humboldt-Universität untersuchte erstmals systematisch das Ausmaß und die Folgen der Kinderverschickung. Die Studienautoren fanden deutliche Hinweise, dass die Missstände in den Heimen strukturell bedingt waren. Sie fanden bestätigt, was ehemalige Verschickungskinder und ihre Verwandten auch dem SPIEGEL schilderten: Drakonische Bestrafungen und Misshandlungen der Verschickungskinder waren in vielen Heimen an der Tagesordnung. In einigen Fällen führten sie sogar zum Tod der Schützlinge.
Foto: Mario Wezel / DER SPIEGEL
Annette Lücking war von Januar bis März 1965 auf Norderney. "Der Dorfarzt hatte bei mir Bronchialasthma diagnostiziert und mich deshalb an die Nordsee geschickt", erzählt die Rentnerin. "Die drei dunklen Monate", diese Formulierung wird sie in den nächsten Tagen, auf den Spuren ihrer Erfahrungen als Fünfjährige, immer wieder benutzen.
Dass sich Lücking überhaupt auf diese Reise in ihre Vergangenheit begeben würde, war lange nicht abzusehen. "Bis vor ein paar Jahren habe ich gedacht, es sei nur mir so gegangen mit den schlechten Erfahrungen der Kinderverschickung", erzählt sie am Strand von Norderney, mit Blick auf die Nordsee. 2019 sei sie in einer Bielefelder Lokalzeitung auf einen Artikel über ein Verschickungskind gestoßen: "Das war ein Schock", sagt Lücking, die heute in Minden lebt, "weil ich zum ersten Mal gesehen habe: Du bist gar nicht allein." Später stieß sie im Internet auf die Initiative "Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW".
Am ersten oder zweiten Abend damals in der Klinik, erzählt sie, habe sie es vor Einsamkeit und Heimweh kaum noch ausgehalten. Im riesigen Schlafsaal mit den weiß lackierten Bettgestellen habe sie sich zu einem Nachbarbett geschlichen und das Mädchen dort flüsternd gefragt, wie es heiße. "Bärbel", habe es leise geantwortet. "Darf ich mich zu dir kuscheln?", habe sie gefragt. Als die beiden entdeckt wurden, setzte es Prügel, erinnert sie sich.
Foto: Mario Wezel / DER SPIEGEL
Lücking steht jetzt vor dem dunklen Backsteingebäude, in dem sie als Fünfjährige so einsam war. Der Bau heißt heute "Seeklinik" statt "Seehospiz", eine Klinik ist er bis heute. Das Gebäude flöße ihr immer noch "Respekt" ein, sagt die ehemalige Lehrerin. Sie geht einmal um das Gebäude herum, so als müsste sie das feindliche Gelände erst von allen Seiten erkunden, bevor sie sich in sein Inneres vorwagt.
Als Lücking schließlich hineingeht, kommen immer neue Details hoch: die dunklen Balken des Wandelgangs, durch den die Kinder, leicht bekleidet, in der Winterkälte marschieren mussten. Das Abspritzen mit eiskaltem Wasser im Rahmen der Thalasso-Therapie. Das tägliche Fiebermessen, bei dem allen Kindern im Schlafsaal nacheinander "das Thermometer in den Po gerammt" wurde, vor den anderen. Und die tägliche Prozedur des Haarekämmens: ruppig und schmerzhaft, mit einer Drahtbürste, die im Vorbeigehen durchgezogen wurde.
"Aua", habe sie einmal geschrien, erinnert sich Annette Lücking. Die Strafe: Sie musste in einem anderen Raum stehen und durfte sich nicht bewegen. "Heute kommt mir das wie mehrere Stunden vor."
Die Studie der Humboldt-Universität zu Berlin hat solche Erfahrungen von Verschickungskindern, die "kontrolliert, eingeschüchtert und zum Teil gedemütigt wurden", systematisch gesammelt und ausgewertet. In ganz Westdeutschland wühlten sich Forschende durch Archive, suchten nach Erlebnisberichten Betroffener und führten Interviews mit ehemaligen Verschickungskindern und einigen Betreuerinnen. Auftraggeber waren das Deutsche Rote Kreuz, der Deutsche Caritasverband, die Diakonie Deutschland und die Deutsche Rentenversicherung. Sie oder ihre Vorgängerinstitutionen betrieben Kinderkureinrichtungen.
Die Studie benennt auch die Ursachen der Missstände: Sie seien etwa durch fehlende pädagogische Konzepte bedingt, einen Mangel an pädagogischem Fachpersonal und unzureichender Aufsicht. An vielen Stellen habe sich daran über lange Zeit nichts geändert, obwohl es Hinweise und Beschwerden gegeben habe.
Laut der Studie erreichte die Anzahl der Plätze 1961 ihren Höchststand, mehr als 58.000 Plätze gab es in diesem Jahr, verteilt auf Hunderte Einrichtungen in der ganzen Bundesrepublik. Mit Beginn der Achtzigerjahre verzeichnen die Wissenschaftler dann einen deutlichen Rückgang, bis es Ende 1990 weniger als 10.000 Plätze für Kinderverschickungen gab.
Die belastenden Erlebnisse, die Millionen Kinder über die Jahrzehnte hier erfahren haben, seien lange Zeit verdrängt und verschwiegen worden, sagt Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des Vereins "Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW" und selbst Betroffener. "Kinderverschickung hat oft traumatische Auswirkungen." Lichtrauter empfiehlt Psychologen und Medizinerinnen, das Thema bei anhaltenden psychischen oder körperlichen Beschwerden mit in den Blick zu nehmen: "Diese frühkindlichen Traumata können noch Jahrzehnte später Erkrankungen auslösen."
Foto: Mario Wezel / DER SPIEGEL
Am Rande des Kurorts Bad Salzdetfurth steht Renate Ramsch vor der Aufgabe, den Ort wiederzufinden, an dem ihr Kind vor 56 Jahren ums Leben kam. Sie will zu der Stelle, wo das Kinderkurheim stand, in dem ihr Sohn André mit drei Jahren auf grausame Art als Verschickungskind starb.
Vor der 86-Jährigen führt eine Treppe den steilen Hang hinauf, zügig nimmt sie jeden Schritt. Manchmal bleibt sie kurz stehen und greift sich ans schmerzende Knie.
Ramsch nimmt die letzte Stufe, dann blickt sie sich um. Der Ort ist idyllisch: Die Anhöhe, auf dem einst das Kurheim lag, ist dicht von Bäumen bestanden. Von hier geht der Blick hinab ins Tal, herausgeputztes Fachwerk, sanfte Hügel. Bis 1969 wurde hier das "Waldhaus" der "Inneren Mission" der evangelischen Kirche betrieben, bis zu 115 Kinder bewohnten zeitgleich das Gebäude. In einer Werbebroschüre pries das Heim eine "nachhaltige Erholung" für die Kinder unter anderem durch "Höhensonne", "sehr gute Waldwege" und "Natursolebäder aus eigenen Quellen" an. Der chronische Mangel an Fachpersonal oder die Beschwerden von Eltern über Zwangsfütterungen ihrer Kinder werden nicht erwähnt.
Ein Pfad führt in den Wald hinein. "Ich glaube, wir müssen hier entlang", sagt Ramsch. Einen Wegweiser gibt es nicht, die einzige Erinnerung an die Verschickungskinder von Bad Salzdetfurth ist eine Stele unten im Dorf. Sie wurde im vergangenen Jahr aufgestellt, als erste in ganz Deutschland. Ramsch hat dort Unkraut gejätet und ein Blumengesteck abgelegt. "Es kümmert sich sonst keiner darum", sagt sie.
Sie zieht ein Foto aus ihrer Tasche. Eine Woche vor Andrés Abreise ins Kurheim hat die Mutter es aufnehmen lassen, ihr Sohn brauchte einen Pass für die Reise aus West-Berlin. André schaut darauf ernst. Nur die Pausbacken verraten, dass er gerade erst drei Jahre alt ist. Es ist das einzige Bild, das sie noch von ihm hat, sie blickt es lange an. "Diese Szene kriege ich nicht aus meinem Kopf: Ich stehe mit André am Bahnhof, er weint und klammert sich an meinen Hals. Dann reißt ihn mir eine der Tanten aus den Armen und sagt: Er wird sich schon beruhigen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah." Ramsch holt tief Luft, Tränen steigen ihr in die Augen. Sie richtet ihren Blick nach vorn, in den Wald hinein. "Gehen wir weiter."
Foto: Mario Wezel / DER SPIEGEL
André kam Anfang Mai 1969 nach Bad Salzdetfurth. Sechs Wochen sollte der Dreijährige hier verbringen, in der Obhut der "Tanten", die sich um die Kinder kümmerten. Für seine Mutter ein Glücksfall: Eigentlich war André noch zu jung für die Kur, doch der Amtsarzt drückte ein Auge zu. So konnte sie dringend benötigtes Geld für die Familie verdienen. Was sie nicht wusste: Kurz zuvor, im März 1969, waren in dem Heim bereits zwei Kinder gestorben. Bei Stefan, sieben, fand sich bei der Obduktion eine große Menge Speisebrei in der Lunge. Kirsten, sechs, starb nach einer Infektion an Herzversagen.
Renate Ramsch schaut ins Dickicht. Vor über einem Jahr war sie schon einmal auf der Anhöhe. "Irgendwo hier muss es gewesen sein." Doch dann schüttelt sie den Kopf. Sie kann sich an den genauen Ort nicht erinnern. Sie zieht ihre orangefarbene Jacke enger um sich. Die Schuld trage sie bis heute mit sich, wird sie später sagen.
Was genau André in den Wochen seiner Verschickung erlebte, lässt sich anhand einer Studie des Historikers Stefan Kleinschmidt im Auftrag der Diakonie rekonstruieren. Sie gibt Aufschluss über die Zustände im Heim - und erzählt detailliert vom Tod des Dreijährigen. Kleinschmidt sichtete dafür Akten, die etwa die Korrespondenz zwischen Heimärzten und Jugendamt enthalten. Über Jahre hinweg wurde der Träger demnach aufgefordert, endlich mehr Fachpersonal einzustellen, offenbar ohne Folgen. Im Februar 1969 kümmerte sich eine einzige gelernte Kindergärtnerin um 55 Kinder, sechs Hilfskräfte standen ihr zur Verfügung. So ist es in einer Beschwerde des Landesjugendamts vermerkt. Um mit dem wenigen Personal die Betreuung der Kinder aufrechterhalten zu können, war in der Zeit von 21.15 Uhr abends bis morgens um 5.30 Uhr niemand für sie zuständig. Eine sogenannte Nachtwache schlief in einem benachbarten Gebäudeteil.
Über die Nacht, in der André starb, gibt es detaillierte Aufzeichnungen, unter anderem die ausführliche Schilderung von einem der beteiligten Sechsjährigen. Demnach stiftete einer der Jungen, mit denen André in einem Zimmer wohnte, andere Kinder dazu an, den Dreijährigen gemeinsam zu verprügeln. Der Sechsjährige war schon zuvor aufgefallen, weil er andere Kinder drangsalierte. Als alle Erzieherinnen am Abend den Schlaftrakt verlassen hatten, schlugen und bissen die Kinder André. Immer wieder versuchte er, aus dem Zimmer zu fliehen, und rief um Hilfe. Doch niemand kam.
Die Jungen stellten André auf sein Bett, um ihn herunterzustoßen, wieder und wieder. Schließlich blieb André regungslos liegen, laut Obduktionsbericht starb er an einer Hirnblutung. Erst am nächsten Morgen fand ihn eine der Angestellten beim Rundgang. Die Nachtwache gab an, nur ein "Poltern" gehört zu haben, aber keine Schreie. Nach den Kindern hatte sie nicht geschaut.
Auch deshalb sei sie noch einmal an diesen Ort zurückgekehrt, sagt Ramsch in Bad Salzdetfurth: Sie könne ihren Sohn nicht mehr beschützen, aber sie wolle ihm so nah wie möglich sein.
An die Zeit nach Andrés Tod erinnere sie sich kaum. Zu sehr habe sie unter Schock gestanden. Ein Anwalt, den sie gemeinsam mit ihrem Mann engagiert hatte, konnte nichts ausrichten - alles sei mit rechten Dingen zugegangen, habe er ihnen mitgeteilt. Eine Entschädigung oder auch nur eine Entschuldigung habe sie nie bekommen.
"Es ist lange her, aber André ist immer hier", sagt sie und tippt sich auf die linke Seite des Brustkorbs. Dann dreht sie sich um und nimmt den Weg zurück ins Tal.
Anja Röhl weiß, wie schwer es für ehemalige Verschickungskinder und ihre Angehörigen ist, herauszufinden, was wirklich geschah. Die Autorin gilt als eine der wichtigsten Stimmen der Verschickungskinder in Deutschland. Einst wurde sie selbst auf Kur geschickt, inzwischen hat die 70-Jährige zwei Bücher zu dem Thema veröffentlicht und ist Vorsitzende der "Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e.V.", die seit 2019 jedes Jahr die wohl größte Zusammenkunft von Betroffenen organisiert - in diesem Jahr findet der Kongress in Bad Wildungen statt. Röhl fordert Unterstützung aus der Politik, um das Thema adäquat aufzuarbeiten.
"Als ich anfing, mich mit dem Schicksal von Verschickungskindern zu beschäftigen, gab es nichts dazu", sagt Röhl. Sie begann, Listen der Heime zu suchen. Schnell war klar: Das Thema war viel größer, als Röhl gedacht hatte. Als sie schließlich einen Erfahrungsbericht online stellte, wurde sie überschwemmt mit Reaktionen. Viele Menschen meldeten sich und berichteten von ihren eigenen, teils schrecklichen Erlebnissen.
Für ehemalige Verschickungskinder sei es noch immer schwer, an Informationen zu gelangen, sagt Röhl. Wer mehr wissen wolle, müsse nach Unterlagen zu seinem Heim forschen. "Doch viele Betroffene waren zu klein, sie können den Namen ihres Heims nicht erinnern", sagt Röhl. "Viele kennen noch nicht einmal den genauen Ort ihrer Verschickung."
Foto: Lisa Duhm / DER SPIEGEL
Der Karton, den die Archivarin Wolfgang Plaga überreicht, ist grau und unscheinbar. Doch er enthält all die Unterlagen zu dem Ereignis, das Plagas Leben vor 72 Jahren in seinen Grundfesten erschüttert hat. Der 79-Jährige ist nach Münster gekommen, um die Papiere selbst in den Händen zu halten.
Plaga sucht im Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe nach Informationen über seinen Bruder. Dieter Plaga starb mit zwölf Jahren während einer Verschickungskur in Niendorf an der Ostsee. Ein schwerer Schlag für Wolfgang Plaga: Sein großer Bruder und er seien damals unzertrennlich gewesen, Dieter habe ihn überall mit hingenommen, obwohl er ganze sechs Jahre älter war. Den Eltern sagte man, das Kind habe vor Schreck einen plötzlichen "Herzschlag" im Wasser erlitten, als sich ungewöhnlich hohe Wellen in der sonst seichten Bucht aufbäumten. "Eine göttliche Fügung", so nannten es die Eltern. Mit dieser Erzählung ist Plaga aufgewachsen.
Nun beugt er sich über schreibmaschinengetippte Seiten, die das Schicksal seines Bruders anders erzählen. Erstmals erfuhr Plaga durch einen Zeitungsartikel, dass es noch eine zweite Version der Geschehnisse gibt. Eine Journalistin der "Neuen Osnabrücker Zeitung" hatte die Akten durchforstet und vor einigen Monaten über den Fall geschrieben. Ein Cousin hatte den Artikel durch Zufall entdeckt und Wolfgang Plaga zugeschickt. "Er hat mich mehrere Tage lang sehr beschäftigt", sagt Plaga.
Am 22. Juni 1953, dem Todestag Dieters, vermerkt laut den Akten ein Badearzt aus Niendorf am Timmendorfer Strand auf Dieters Totenschein: "Tod durch Ertrinken". In einem anderen Schreiben wenige Tage darauf berichtet eine Erzieherin ausführlich über die Vorkommnisse am Strand.
Sie sei zuerst allein mit 47 Kindern gewesen, erst später seien zwei Kolleginnen dazugekommen. Dieter sei gemeinsam mit anderen älteren Jungen zu einer Sandbank geschwommen. Sie habe die Jungen erst zurückgerufen, als die "See unruhig wurde". Doch Dieter sei von einer ungewöhnlichen Strömung erfasst worden und trotz Rettungsversuchen untergegangen. 20 Minuten später sei dann sein Körper angespült worden - alle Wiederbelebungsmaßnahmen scheiterten. Ein Badeunfall, verursacht nicht durch eine übergeordnete Macht, sondern durch die leichtsinnige Entscheidung einer überlasteten Erzieherin.
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Die Akte ist dick, Plaga braucht Stunden, um sich hindurchzuarbeiten, immer wieder fotografiert er einzelne Seiten ab. Er liest im Stehen, mit den Fingern streicht er über einzelne Zeilen. "Puh", sagt er, als er den Ordner schließlich schließt. Er macht einen gefassten Eindruck, doch wenn er über seinen Bruder spricht, füllen sich seine Augen mit Tränen.
"Ich erinnere mich noch genau, wie ich vom Tod meines Bruders erfuhr", sagt Plaga. "Ich verließ gerade mit meiner Mutter das Haus, als mein Vater aus einem Auto stieg und uns entgegenstürzte. Er überbrachte uns dann die Nachricht, dass Dieter gestorben war." Für ihn sei das immer unbegreiflich geblieben. Der große, starke Bruder, den alle nur den "Hasen" nannten, weil er so schnell rennen konnte wie sonst keiner. Und er, Wolfgang, der "kleine Hase", der ihm auf Schritt und Tritt gefolgt war.
Plaga legt die Akte zurück in den Karton. Für heute hat er genug. Er schließt den Deckel und übergibt die Dokumente der Archivarin.
Annette Lücking sitzt auf der Rückfahrt von Norderney wieder auf dem Oberdeck der Fähre. Unten im Schiff sei es ihr zu eng, sagt sie und hält ihren Schal fest.
Lücking will sich nicht damit zufriedengeben, was sie auf ihrer Reise erlebt hat. Die Insel müsse sich ihrer Verantwortung stellen. Die Pensionärin hat ein Ziel: Sie will, dass auf Norderney ein Gedenkort für das Leid der Verschickungskinder entsteht. "Die Erinnerung muss die Schmerzen wachhalten", sagt sie.
Als ihr damals, im März 1965, gesagt wurde, dass sie wieder nach Hause dürfe, nach den schrecklichen Wochen im Seehospiz, da habe sie gedacht: "Zu Hause? Wo ist das denn?", erzählt Lücking. Am Bahnhof angekommen, sei sie an ihren Eltern vorbeigerannt, weil sie die nach den Wochen der Trennung kaum noch erkannt habe. Stattdessen lief sie direkt zu ihrem Bruder. "Den wollte ich nie wieder loslassen."
