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SS-Verbrecher Johann Mirbeth Auschwitz-Mörder fand Zuflucht bei den Bismarcks

SS-Verbrecher Mirbeth in München 1950: Sadistisch und grausam / Foto: Fritz Bauer Institut

Johann Mirbeth war SS-Unteroffizier in Auschwitz. 1945 versteckte er sich bei Otto von Bismarck, dem Enkel des "Eisernen Kanzlers". Er war nicht der einzige Mörder aus dem Vernichtungslager, der dort Zuflucht fand. Zufall?

Von Klaus Wiegrefe

21.02.2025, 13.00 Uhr o aus DER SPIEGEL 9/2025

Am 29. März 1950 betrat der ehemalige SS-Oberscharführer Johann Mirbeth das Polizeipräsidium München und zeigte sich selbst an - wegen "Führens falscher Personalien". In seinen Papieren stand, er sei 1900 in Kattowitz geboren, in Wirklichkeit war er 1905 in München zur Welt gekommen. Nun wollte er eine Amnestie für Ordnungswidrigkeiten nutzen und die Angaben richtigstellen.

Die Korrektur der Unterlagen war kein Problem, die Begründung schon. Mirbeth erklärte den Polizisten, dass er ab 1941 im deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz gedient hatte, das im heutigen Polen liegt. Daher der Schwindel bei den Angaben: Er habe sich, wie er es ausdrückte, "vor falscher politischer Bestrafung" schützen wollen. Die fürchtete er nun - fünf Jahre nach dem Holocaust - offenbar nicht mehr.

Tatsächlich kam Mirbeth zunächst mit der Ausrede davon, er sei bestrebt gewesen, "für die Häftlinge gute Kleidung und gute Verpflegung zu bekommen und diese gesund zu erhalten". Die Hauptkammer München, zuständig für Entnazifizierung, bescheinigte ihm, "nicht hinreichend verdächtig" zu sein, um als Belasteter zu gelten.

Doch schon bald ermittelte die Staatsanwaltschaft Bremen, denn Mirbeth hatte trotz seines niederen Ranges mehrere Außenlager von Auschwitz geleitet und war dort Herr über Leben und Tod gewesen. 1953 wurde er wegen Mordes und Totschlags verurteilt. Später musste er sich weiteren Ermittlungen stellen, auch im berühmten Auschwitz-Verfahren in Frankfurt am Main.

Viele Verbrechen bestritt er ("Ich habe immer nur mit der flachen Hand geschlagen"). Über seine Flucht nach dem Untergang des "Dritten Reichs" gab er hingegen bereitwillig Auskunft. Mirbeth war im Mai 1945 auf Besitzungen Otto von Bismarcks bei Hamburg untergetaucht, des damaligen Chefs der Familie und Enkel des gleichnamigen Kanzlers und Reichsgründers. Die Bismarcks besaßen den Sachsenwald und andere Ländereien. Anderthalb Jahre lang arbeitete Mirbeth dort in seinem Lehrberuf als Schreiner. Für seine Zeit bei den Bismarcks interessierte sich allerdings niemand - bis jetzt.

Denn die Bismarcks und die Nazis sind ein Thema, das neuerdings Historiker und Medien beschäftigt. Die Familie hat selbst das Interesse befördert durch einen Rechtsstreit mit dem Land Sachsen-Anhalt, der zeitweise das Bundesverwaltungsgericht beschäftigte. Es ging um Kunstobjekte, die nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone enteignet worden waren und deren Rückgabe die Familie verlangte.

Nach geltendem Recht ist eine solche Rückerstattung ausgeschlossen, wenn jemand dem Nationalsozialismus "erheblichen Vorschub" geleistet hat. Und so stritten beide Seiten über die Rolle Otto von Bismarcks im "Dritten Reich" und in der Zeit davor. Am Ende entschieden die Richter 2011 zugunsten der Bismarck-Erben. Doch schon da wurde deutlich: Die Aufarbeitung steht erst am Anfang.

War Otto von Bismarck etwa in NS-Verbrechen verstrickt? Welche Rolle spielten Schwestern, Mütter, Ehefrauen? Und wie ging es nach 1945 weiter?

Ex-Kommandant Baer nach Verhaftung 1960: Unter falschem Namen versteckt
Foto: dpa / picture alliance

Mirbeth ist schon der zweite SS-Mörder aus Auschwitz, dessen Verbindung zu den Bismarcks in der Öffentlichkeit jetzt Beachtung findet. Der andere war Richard Baer, letzter Kommandant von Auschwitz (mehr dazu lesen Sie hier ). Er stand ab Sommer 1946 bei der Fürstlich von Bismarck'schen Forstverwaltung in Lohn und Brot. Unter falschem Namen arbeitete er im Wald, in der Verwaltung, beim Holzverkauf.

Einige Monate waren Mirbeth und Baer nach SPIEGEL-Recherchen sogar zeitgleich für die Bismarcks tätig. Dann setzte sich Mirbeth ab. Baer hingegen blieb und wurde erst 1960 verhaftet. Auf die Frage, ob er zu ehemaligen SS-Leuten Kontakt gehalten habe, gab Baer keine Antwort.

Ist es Zufall, dass von den etwa 6500 Männern und Frauen der SS, die in Auschwitz Dienst taten und den Krieg überlebten, gleich zwei Verantwortliche bei der prominenten Familie untertauchten? Wer ist da noch zu finden unter dem Personal, das Otto von Bismarck seinerzeit beschäftigte?

Sprecher Gregor von Bismarck im Sachsenwald 2020: Keine Auskunft zu Mirbeth
Foto: Michael Rauhe / FUNKE Foto Services

Das Archiv der Familie ist nicht frei zugänglich. Gregor von Bismarck, ein Enkel Ottos und heute Sprecher eines Teils der Familie, hat eigenen Angaben zufolge zwei Wissenschaftler 2023 mit der Recherche beauftragt, ob seine Vorfahren im Fall Baers wussten, wen sie vor sich hatten. Er selbst glaubt nicht daran, wie er seinerzeit mitteilte. Zum Stand der Aufarbeitung und zum Fall Mirbeth äußert er sich auf Anfrage nicht.

Mirbeths SS-Vergangenheit war nach SPIEGEL-Recherchen offenbar kein Geheimnis. Wie andere Angehörige der SS trug er eine Tätowierung mit seiner Blutgruppe auf der Innenseite des linken Oberarms. In einer richterlichen Vernehmung sagte er 1963 laut Protokoll: "Da ich das Blutgruppenzeichen noch hatte, sagte Gottfried von Bismarck zu mir, es sei besser, wenn ich verschwinden würde." Gottfried von Bismarck war ein jüngerer Bruder Ottos und vermutlich Mirbeths Chef.

Das Protokoll der Vernehmung befindet sich im Archiv des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main. Es zählt zu einer Vielzahl von Dokumenten zu Mirbeth und den Bismarcks, die der SPIEGEL nun ausgewertet hat. Sie stammen aus diversen Archiven wie dem Bundesarchiv in Berlin und Ludwigsburg, den Staatsarchiven in Bremen und München, dem Landesarchiv in Schleswig, den Stadtarchiven von Lübeck und Reinbek sowie den National Archives in Washington.

Protokoll der Vernehmung Mirbeths 1963 (Ausriss): Von Gottfried von Bismarck offenbar gedeckt
Foto: Fritz Bauer Institut

Mit Himmler per Du

Es ist die Geschichte dreier Männer, alle NSDAP-Mitglieder: Gottfried von Bismarck und Johann Mirbeth traten schon vor Hitlers Machtantritt 1933 der Partei bei, Otto von Bismarck wenige Monate danach. Die Bismarcks zählten damals zu den reichsten und prominentesten Familien Deutschlands, der Boulevard interessierte sich für den vorsichtigen Otto und dessen aus Schweden stammende Ehefrau Ann Mari, die als Schönheit galt.

Otto und den umtriebigen Gottfried verband ein enges Verhältnis. Die beiden Juristen fremdelten mit der Weimarer Republik, die den Adel abgeschafft hatte. Wie andere Angehörige der Eliten aus dem Kaiserreich setzten sie auf die Nazis, von denen sie sich auch einen Karriereschub erhofften.

Parteimitglieder Hitler, Ann Mari von Bismarck (3.v.r.), Otto von Bismarck (r.) in Friedrichsruh 1939: Propagandabesuch vom Diktator
Foto: ullstein bild / Getty Images

Gottfried von Bismarck war bis 1929 Mitglied der Geschäftsführung des Reichsverbandes der deutschen Industrie gewesen, dann bewirtschaftete er eines der familieneigenen Güter. 1932 gründete er mit Industriellen eine Gruppe, die Hitler wirtschaftspolitisch beriet. Später wurde daraus der "Freundeskreis Reichsführer SS", dessen Mitglieder hohe Spenden an SS-Chef Heinrich Himmler leisteten.

Er duzte sich mit Himmler, was dieser nur wenigen gestattete. 1935 trat er der SS bei und wurde schließlich von Himmler zum SS-Brigadeführer ernannt.

Hitler kam die Unterstützung der Brüder mit dem glanzvollen Namen überaus gelegen. Ihm half der Bismarck-Kult, wonach nur ein Führer Antworten auf die großen Fragen der Zeit geben konnte. Und die Brüder erfüllten die Erwartungen.

Sie machten bei Propagandaveranstaltungen der Nazis mit oder ließen sich in Illustrierten mit Hitler-Porträts im Hintergrund ablichten. 1933 zog Gottfried von Bismarck für die NSDAP in den Reichstag ein, wurde zugleich Landrat und NSDAP-Kreisleiter auf Rügen, später Regierungspräsident in Stettin und ab 1938 in Potsdam. Auch Otto von Bismarck, Oberhaupt der Familie und Diplomat, machte Karriere. Er verkehrte mit Hitlers Adlatus Hermann Göring und stieg 1940 zum zweiten Mann an der Botschaft in Rom auf.

Orden für den Holocaust

Handwerkersohn Mirbeth war hingegen Nazi "aus reiner Überzeugung", wie er in seinem Entnazifizierungsverfahren 1950 erklärte. 1931 wurde er SS-Mitglied. Die Weltwirtschaftskrise überstand der Tischler bei einem Zuliefererbetrieb der Automobilbranche, 1934 heuerte er als "erster Packer" bei der Reichszeugmeisterei der NSDAP in München an. Dort lagerten Uniformen und Parteiabzeichen.

Mirbeth, verheiratet, vier Kinder, brachte es zum Lagerverwalter, mit drei Wochen Urlaub im Jahr und überdurchschnittlichem Gehalt. Seine Vorgesetzten bescheinigten ihm, er sei ein "gutmütiger Mensch", aber leicht erregbar, was Böses ahnen ließ.

Bei Kriegsbeginn 1939 kam er zu den SS-Totenkopfverbänden. Da Mirbeth hinkte, galt er als frontunfähig. Anfang 1941 wurde er nach Auschwitz versetzt. Das Lager war damals im Aufbau, die systematische Ermordung von Juden mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B begann im Jahr darauf.

Doch für die zunächst meist polnischen Häftlinge war es von Beginn an ein grauenhafter Ort. Und Mirbeth trug dazu bei.

Er schlug Häftlinge zusammen oder ließ sie von Kapos verprügeln, damit sie Richtung Postenkette rannten. Die Wachposten eröffneten dann das Feuer, die Opfer seien ja auf der Flucht. Für das Verhindern einer Flucht gab es Sonderurlaub. So berichteten es Überlebende.

Mirbeth zog zeitweise auch die Postenkette auf, die das Gelände um die Rampe an den Gleisen sperrte, wenn Züge mit neuen Häftlingen eintrafen. "Postenkette ordnungsgemäß aufgezogen, keine besonderen Vorkommnisse", meldete er dann. Die ankommenden Opfer wurden selektiert: Die Kräftigeren mussten als Zwangsarbeiter schuften, die anderen - darunter fast alle Kinder - kamen in die Gaskammer.

Mirbeth habe sich "auf das Beste bewährt", lobte ihn Heinrich Schwarz, einer der Auschwitz-Kommandanten. Mirbeth erhielt mit 14 anderen Frauen und Männern der Lager-SS das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern - für den Einsatz bei der Ermordung der Juden aus Ungarn, wie der Historiker Stefan Hördler ermittelt hat.

Ankunft von Juden aus Ungarn im Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau im Juni 1944

Selektion der Opfer an der Rampe im Mai/Juni 1944

Kommandant Baer (M.) mit SS-Arzt Josef Mengele (2.v.l.) und anderen SS-Offizieren in einem Erholungsheim bei Ausschwitz für SS-Manschaft de Konzentrationslagers 1944
ReinhardSchultz/IMAGO,ullstein bild,Holocaust Memorial Museum / AFP

Kommandant Schwarz förderte Mirbeth. Beide stammten aus München, beide waren zeitgleich dort in der 1. SS-Standarte gewesen. Im April 1943 übernahm Mirbeth die Leitung des Außenlagers Golleschau etwa 60 Kilometer südwestlich von Auschwitz. Bis zu rund 1000 Häftlinge mussten dort in Steinbrüchen schuften. Später war er auch Führer des Auschwitzer Außenlagers Althammer.

Mirbeth bandelte mit einer Postangestellten an, die seine zweite Ehefrau wurde und vor der Justiz bezeugte, ihr Mann sei "menschlich und human" gewesen. Die Überlebenden beschrieben ihn hingegen als sadistisch und grausam. Einige nannten ihn "Tom Mix", nach einem US-Schauspieler aus Western der Vorkriegszeit, weil Mirbeth so schnell zur Waffe griff.

Eines der zahlreichen Verbrechen: die mehrfach bezeugte Ermordung eines etwa 17-jährigen Ungarn im Sommer 1944. Dieser sprang auf dem Weg zur Zwangsarbeit aus der Marschkolonne, hob schnell eine Rübe auf und reihte sich wieder ein. Doch Mirbeth hatte ihn gesehen. Geschrei, Hundegebell, die Kolonne hielt. Er habe nicht fliehen wollen, nur Hunger, beteuerte der Teenager, der Deutsch sprach. Mit leutseliger Stimme sagte Mirbeth, er möge die Rübe zurückwerfen und zeigen, wie er sie geholt habe. Als der Häftling dem nachkam, erschoss Mirbeth ihn.

KZ-Häftlinge auf dem Bauernhof

Mit dem Holocaust hatte Diplomat Otto von Bismarck wohl nur am Rande zu tun. 1942 erhielt er in Rom den Auftrag, den italienischen Verbündeten aufzufordern, Juden aus jenen Teilen Kroatiens auszuliefern, die von Italien besetzt waren. Er sprach im italienischen Außenministerium vor, wenn auch erkennbar widerwillig. Am Ende gaben die Italiener niemanden heraus. Auch deshalb lehnte die zuständige Staatsanwaltschaft in Lübeck es 1961 ab, ein Ermittlungsverfahren gegen Otto von Bismarck einzuleiten. Ihm wäre allenfalls "misslungene Anstiftung" vorzuwerfen - und die sei verjährt.

Bismarcks Schloss in Friedrichsruh 1913: Rückzugsort nach Karriereende
Foto: ullstein bild / picture alliance

Tischnachbarn Ann Mari von Bismarck, Hermann und Emmy Göring, Otto von Bismarck beim Opernball in Berlin 1937: Karriere im "Dritten Reich"
Foto: Scherl / SZ Photo / picture alliance

Da Hitler mit der Berichterstattung der Botschaft unzufrieden war, wurde Otto von Bismarck 1943 in den einstweiligen Ruhestand versetzt und zog sich auf sein Schloss nach Friedrichsruh zurück.

Gottfried von Bismarck fiel ebenfalls in Ungnade. Einigen Quellen zufolge war er zum Widerständler geworden, weil er den Krieg ablehnte. Andere Zeitzeugen berichten von schwer zu deutenden Kontakten, die er in Himmlers Umfeld unterhielt. Er wurde nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 jedenfalls verhaftet, aller Ämter enthoben und aus der NSDAP verstoßen. Dann allerdings erfolgte ein Freispruch des Volksgerichtshofs, und wohlgesinnte Bismarck-Experten wie Jochen Thies vermuten, der Familienname habe ihn vor einer Hinrichtung bewahrt. Gottfried von Bismarck blieb in KZ-Haft, schrieb an Himmler, es sei ein "Missverständnis", das zu seiner Verhaftung geführt habe, und wurde im Februar 1945 mit der Auflage entlassen, sich nach Friedrichsruh zu begeben.

Die alliierten Truppen waren inzwischen an allen Fronten auf dem Vormarsch, und nun endete auch Mirbeths NS-Karriere. Die SS räumte Auschwitz und trieb die Häftlinge auf Todesmärsche Richtung Westen.

In Blankenburg im Harz übernahm Mirbeth noch einmal ein Nebenlager des KZ Mittelbau, das wiederum von Baer geleitet wurde. Doch am Morgen des 6. April gab Mirbeth das Nebenlager auf und trieb mit seiner SS-Mannschaft eine Kolonne mit einigen Hundert Häftlingen nach Magdeburg. Sie schlossen sich dem SS-Oberscharführer Max Schmidt an, der ebenfalls mit Häftlingen unterwegs war, beschlagnahmten Schleppkähne und schipperten über Elbe und Elbe-Lübeck-Kanal nach Lübeck.

Schmidt war in Sarau aufgewachsen, etwa 25 Kilometer nördlich von Lübeck. Die SS-Leute verteilten die KZ-Häftlinge auf zwei Bauernhöfe in der Region. Der Historiker Jörg Wollenberg hat das Schicksal der Opfer minutiös rekonstruiert. Fast bis zum Schluss starben Menschen in Mirbeths Befehlsgewalt.

Geheimverhandlungen mit Himmler

SS-Chef Himmler hoffte in diesen letzten Kriegswochen noch auf einen Separatfrieden mit den Westmächten, um die drohende Niederlage abzuwenden. Als Geste guten Willens war er bereit, skandinavische KZ-Häftlinge zu verschonen, und verhandelte darüber mehrfach auch mit Folke Graf Bernadotte, stellvertretender Präsident des Schwedischen Roten Kreuzes - und früherer Schulkamerad von Ann Mari, der Ehefrau Otto von Bismarcks.

Bernadotte wohnte dann auf Bismarcks Besitzungen in Schönhausen oder Friedrichruh und fuhr von dort zu den Geheimgesprächen mit Himmler, die in Hohenlychen in Brandenburg, in Berlin oder Lübeck stattfanden. Vermutlich halfen die Bismarcks aus humanitären Gründen, vielleicht wollten sie sich nach allen Seiten absichern.

Himmler ließ am Ende wohl mindestens 15.000 skandinavische und andere Häftlinge ausreisen. Allerdings verlangte er von den Skandinaviern, dass sie die Transporte organisierten. Und so trafen in der Nacht zum 13. März 1945 Dutzende Busse und Hunderte Helfer aus Schweden in Schloss Friedrichsruh ein, wo Bernadotte das Hauptquartier aufschlug.

Die Busse waren weiß gestrichen, damit die Alliierten sie nicht bombardierten. Von Friedrichsruh aus holten sie Häftlinge aus Lagern im ganzen Reich ab, brachten sie ins KZ Neuengamme in Hamburg und schließlich von dort nach Dänemark oder auch direkt dorthin. Und natürlich war die SS dabei. In den Lagern sowieso, in den Bussen, in Friedrichsruh.

Heute ist die Hilfsaktion umstritten, denn um Platz für die Skandinavier in Neuengamme zu schaffen, mussten andere KZ-Opfer weichen, die besonders entkräftet waren. Die SS verlangte von Bernadotte, diese Menschen mit den Bussen in Außenlager zu bringen, was sie oft nicht überlebten.

Auch SS-Oberscharführer Mirbeth übergab Häftlinge an die Schweden, das war am 30. April 1945 in Gut Glasau bei Sarau. Sein SS-Kamerad Schmidt war zuvor nach Lübeck gefahren und hatte dort mit Bernadotte gesprochen. Wie es dazu kam, ist strittig. Aber am Ende fuhren Lastwagen des schwedischen Roten Kreuzes vor.

Danach setzte Mirbeth sich ab. Er tauschte die Uniform gegen Zivilkleidung und schlug sich zu Fuß zu den Bismarcks durch. Am 12. Mai, vier Tage nach der Kapitulation, meldete er sich mit richtigem Namen und falschem Geburtsort in der Gemeinde Schönningstedt an, heute Ortsteil von Reinbek. Er sei Wehrmachtssoldat gewesen.

Mirbeth wohnte bei einem Vertriebenen auf Gut Schönau, das Otto von Bismarck gehörte und wenige Kilometer vom Schloss entfernt liegt. Der ehemalige SS-General Gottfried von Bismarck nutzte offenbar das Verwalterhaus.

Knapp entkommen

Weiße Busse in Friedrichsruh 1945: Rettung von KZ-Häftlingen
Foto: 914 collection / Alamy / mauritius images

Das Gut umfasste damals etwa 1000 Hektar, heute kann man dort Räumlichkeiten für Firmenevents und Hochzeiten mieten. Lohnunterlagen zufolge arbeitete Mirbeth spätestens ab dem 25. Mai 1945 für die Bismarcks. Er bekam 35 Pfennig die Stunde und musste 60 Stunden in der Woche ran.

In der Region um den Sachsenwald lebten überdurchschnittlich viele ehemalige Nationalsozialisten. Es war nicht zu erwarten, dass sie alte Parteigenossen verrieten. Die Vermutung liegt nahe, dass Mirbeth auch deshalb bei den Bismarcks auftauchte. Die NS-Propaganda hatte die Nähe der Familie zu Hitler jahrelang herausgestellt, einschließlich dessen Besuchs auf Schloss Friedrichsruh 1939. Selbst die Aktion Weiße Busse war ja nicht gegen die SS, sondern zwangsläufig mit dieser zustande gekommen.

Otto von Bismarck unterhielt später nachweislich Kontakte zu einem Netzwerk Ewiggestriger, die eine Generalamnestie anstrebten, also selbst Verbrechen des Holocaust nicht ahnden wollten (mehr dazu lesen Sie hier ). Da war Mirbeth allerdings längst geflohen.

Mirbeths große Sorge galt der britischen Besatzungsmacht, die im Nordwesten Deutschlands das Sagen hatte. Er hatte Angst vor einer "Auslieferung und der damit verbundenen ungerechten Behandlung", wie er später erzählte. Gemeint war offenkundig eine Auslieferung nach Polen, wo die Verbrechen von Auschwitz bald nach Kriegsende verfolgt wurden.

Im Sommer 1946 schien es eng zu werden. Am 18. Juni übernahm die britische Militärregierung den Gutsbetrieb Schönau, weil es sich um landwirtschaftlichen Besitz über 500 Hektar handelte. Die Labour-Regierung in London setzte damals auf eine Bodenreform in Deutschland. Sie wollte die Großgrundbesitzer schwächen, die für das Scheitern der Weimarer Republik und Hitlers Kanzlerschaft mitverantwortlich waren.

Als dann ein neuer Kollege in der Schreinerei in Schönau erzählte, er sei KZ-Häftling gewesen, forderte Gottfried von Bismarck Mirbeth auf, das Gut zu verlassen: Dieser drohe sonst aufgrund seiner SS-Tätowierung aufzufliegen. So erzählte es Mirbeth im Auschwitz-Verfahren.

Er meldete sich am 30. September 1946 nach Recklinghausen im Ruhrgebiet ab. Mirbeth arbeitete einige Jahre lang im Bergbau und kehrte nach einem Grubenunfall nach München zurück. 1952 wurde er verhaftet.

Mit den Bismarcks hatte Mirbeth in diesen Jahren offenbar keinen Kontakt mehr. Und es fiel auch nach der Verhaftung des letzten Auschwitz-Kommandanten Baer im Sachsenwald 1960 niemandem auf, dass es nun schon zwei SS-Verantwortliche aus dem Vernichtungslager gab, die Otto von Bismarck bei sich beschäftigt hatte.

Der Chef des Hauses nahm vielmehr für sich in Anspruch, von Anfang an "Feind" des Hitlerregimes gewesen zu sein. In die NSDAP sei er eingetreten, um Schlimmeres zu verhindern. Und Ehefrau Ann Mari, Parteimitglied seit 1933, erklärte im Entnazifizierungsverfahren an Eides statt, der NSDAP nicht angehört zu haben.

Otto von Bismarck startete eine neue politische Karriere in der CDU. Sie brachte ihn 1953 in den Bundestag, wo er drei Legislaturperioden blieb. Er starb 1975 hoch angesehen in seinem Schloss. Nach Ann Mari wurde eine Schule in Aumühle benannt.

Auch Gottfried von Bismarck beteuerte seine Unschuld. Der zuständige Entnazifizierungsausschuss stufte ihn als "minderbelastet" ein: die dritte von fünf Kategorien, üblicherweise verbunden mit moderaten Geldstrafen oder einer Einschränkung der Pensionsansprüche. Gottfried von Bismarck legte Berufung ein und präsentierte auch die Aussagen von zwei Juden, die glaubhaft bezeugten, er habe ihnen geholfen. Fortan galt er als "Entlasteter".

1949 kam er bei einem Autounfall ums Leben und findet heute meist nur Erwähnung, wenn es um seine Enkelin geht, die Ex-Frau des einstigen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg.

Und Mirbeth?

Nach einer mehrjährigen Zuchthausstrafe wurde er 1956 begnadigt und verdiente seinen Lebensunterhalt als Bürogehilfe bei einem Anwalt. Er erkrankte 1964 an Parkinson, was ihm weitere Verurteilungen ersparte.

Allerdings wurde er häufig vernommen, auch zum Geschehen an der Rampe. Einmal äußerte er so etwas wie Reue: "Ich hatte bei den Selektionen, die nach der Ankunft neuer Transporte stattfanden, das Gefühl, dass diese ganzen Aktionen nicht richtig waren ... Besonders ungeheuerlich empfand ich, dass auch die Kinder vernichtet wurden."

Mirbeth starb im selben Jahr wie Otto von Bismarck in seiner Heimatstadt.


Quelle:


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 06.06.2025 - 15:22