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Die verdrängte Vergangenheit des wohltätigen Herrn Reissmüller Verleger Wilhelm Reissmüller galt als "ungekrönter König" von Ingolstadt. Nun holen ihn und die CSU seine Nähe zum Nationalsozialismus ein. Der Stadtrat entscheidet über die Aberkennung seiner Ehrenbürgerschaft.

Von Thomas Schuler

03.06.2025, 07.51 Uhr

Foto: Universitätsarchiv München (UAM)

Beim "Donaukurier" in Ingolstadt wurde Wilhelm Reissmüller nur "der Doktor" genannt. Es war seine Zeitung, Reissmüller war Herausgeber und Chefredakteur des "Donaukuriers" und damit über Jahrzehnte einer der einflussreichsten Regionalzeitungsverleger in Bayern. Er verstand sich mehr als Künstler denn als Journalist und herrschte in seiner Stadt wie ein Fürst.

Eine Studie der Universität München beschrieb ihn in den Siebzigerjahren als "graue Eminenz" und betonte, Oberbürgermeister und Stadträte hätten vor ihm gekuscht. Bei Bürgermeisterwahlen setze er seine Zeitung ein, um seinem Favoriten zum Sieg zu verhelfen. 1976 verlieh ihm die Stadt die Ehrenbürgerwürde.

Schon zwei Jahre später schrieb der SPIEGEL unter dem Titel "Sozusagen ausgeliefert" über ihn und sein Zeitungsmonopol und zitierte aus besagter Studie: Befragt nach den "zehn wichtigsten Personen" der Stadt, hätten 60 repräsentativ ausgewählte Ingolstädter ausnahmslos Reissmüller an erster Stelle genannt, den "ungekrönten König" der Kommune. Einer kommentierte: "Wenn Sie nach den zehn einflußreichsten Leuten fragen, müssen Sie zehnmal Reissmüller schreiben." Die Zeitungswissenschaftlerin Petra Dorsch musste das Protokoll eines freizügigen, fünfstündigen Interviews, das er ihr gewährt hatte, auf Druck eines Anwalts aus der Studie entfernen.

Reissmüller im Kreise von Politikern: CSU-Landtagsabgeordneter Manfred Dumann, Landtagspräsident Rudolf Hanauer (CSU), Wilhelm Reissmüller, Regierungspräsident von Oberbayern Raimund Eberle und CSU-Landtagsabgeordneter Hermann Regensburger (v.l.n.r.)
Foto: Stadtarchiv Ingolstadt

Als er 1993 starb, betonte Oberbürgermeister Peter Schnell (CSU): "Mit vollem Recht ist Herr Dr. Reissmüller Ehrenbürger von Ingolstadt." Für den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber war er eine der "großen Persönlichkeiten der bayerischen Presse". Nun, mehr als 30 Jahre nach seinem Tod, holen ihn, die CSU und seine Stadt Reissmüllers Vergangenheit im Nationalsozialismus ein. Und die Christsozialen müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie den einflussreichen Verleger in der Öffentlichkeit so lange geschützt haben.

Das Tabu von Ingolstadt

Reissmüller legte zu Lebzeiten viel Energie in die Verteidigung seiner scheinbar unbefleckten Vergangenheit. Dabei lagen seine Studienkarte und Promotionsakte jahrzehntelang unbeachtet im Archiv der Universität München und wahrten das Geheimnis um seine frühe NS-Nähe, über die bereits seit den Siebzigerjahren diskutiert wurde. Schon 1978 hatte der SPIEGEL seine Mitgliedschaft in der NSDAP erwähnt.

Als Studenten sie 1982 im alternativen "Schanzer Journal" in Ingolstadt öffentlich machten, ging er gerichtlich gegen sie vor und stellte sich gar als Gegner der Nazis dar, der sein Leben im Widerstand riskiert habe. Er klagte bis ans Bundesverfassungsgericht, um seine Nähe zur NSDAP zu bestreiten und Berichterstattung in seiner Stadt darüber zu verhindern. Vor Gericht konnte er sich letztlich nicht durchsetzen. Doch in Ingolstadt blieb er dank seiner Meinungsmacht ein wohltätiger Ehrenmann, der eine Behinderteneinrichtung finanziell unterstützte. Für Stadtarchiv, Lokalpolitik und Rathaus blieb seine NS-Vergangenheit tabu.

Reissmüllers Studienkarte: SS-Reiter
Foto: Universitätsarchiv München (UAM)

Die Promotionsakte offenbart sowohl den frühzeitigen Beitritt in den NS-Studentenbund als auch in SA und SS, zudem leitete Reissmüller die NS-Hochschulzeitung in München. Über seine Kommilitonin und spätere Ehefrau Elin Liebl kam er nach Ingolstadt, wo er dem NS-"Donauboten" ihres Vaters Ludwig Liebl die katholisch-konservative "Ingolstädter Zeitung" einverleibte, die frühzeitig gegen Hitler angeschrieben hat. Der "Donaubote" hetzte im Stile des "Stürmers" gegen Juden.

Seine Beteiligung an der Gleichschaltung der NS-Presse redete er in der Entnazifizierung und bei gerichtlichen Auseinandersetzungen klein. Er habe dafür gesorgt, dass der "Donaubote" im Privatbesitz geblieben sei. Obwohl er ab 1936 als Verlagsleiter fungierte, habe er auf Inhalte keinen Einfluss gehabt. Zwar sei er Mitglied der Partei gewesen, schrieb er 1945 dem Bischof von Eichstätt. Er habe sich jedoch nicht aktiv politisch betätigt. In der Entnazifizierung wurde er trotz seiner Parteimitgliedschaft entlastet, weil er einen Persilschein vorweisen konnte, wonach er an der Verschwörung des 20. Juli 1944 beteiligt gewesen sei.

Im Meldebogen der Entnazifizierung hatte er seine Parteimitgliedschaft zugegeben, NSDAP-Nr. 5030 227, nicht aber die NS-Nähe während seines Studiums. Jahre später, als ihm klar wurde, dass seine Mitgliedskarte verloren war, leugnete er die Zugehörigkeit zu Hitlers Partei gänzlich. Er sei lediglich Anwärter gewesen, weil sein Schwiegervater ihn ohne sein Wissen angemeldet habe. Heute gilt die Mitgliedschaft als gesichert, weil er bis 1945 Beiträge zahlte und auch die Anwärterschaft seine eigenhändige Unterschrift erforderte, wie der NSDAP-Experte Armin Nolzen betont. Die Promotionsakte zeigt auch, dass er entgegen seiner Behauptung beim "Donauboten" redaktionelle Verantwortung trug, wie er selbst 1936 schrieb. Für seine angebliche Beteiligung bei der Planung des Stauffenberg-Attentats 1944 haben Historiker keine Belege jenseits des Persilscheins.

Zum Autor
Thomas Schuler, Jahrgang 1965, ist Autor von Beiträgen über Ludwig Liebl und Wilhelm Reissmüller in "Täter, Helfer, Trittbrettfahrer - NS-Belastete in Oberbayern (Nord) Bd. 17" , Kugelberg-Verlag. Darin enthüllte er davor unbekannte Details aus der Promotionsakte über Reissmüllers NS-Belastung. Für den SPIEGEL recherchiert er seit Jahren in diesem Komplex.

"Es müssen zeitnah politische Konsequenzen erfolgen"

Die Belege sind vielfältig, daraufhin wurde im Dezember 2024 im Ingolstädter Stadtrat ein Antrag auf sofortige Aberkennung der Ehrenbürgerschaft eingebracht. "Sobald neue Erkenntnisse zu einer NS-Belastung von ehemals als Ehrenbürger ausgezeichneten Personen vorliegen, müssen zeitnah politische Konsequenzen erfolgen", heißt es im Antrag der grünen Stadträtin Agnes Krumwiede, den SPD, Unabhängige Wählergemeinschaft (UWG), ÖDP und Linke mitgerechnet haben. Zudem müsse Reissmüllers Stiftung umbenannt werden. "Es ist Zeit, dass mit der symbolischen Aberkennung der Ehrenbürgerwürde auch die namentliche Präsenz Reissmüllers im gesellschaftlichen Leben unserer Stadt ein Ende hat."

Wilhelm Reissmüller
Foto: Universitätsarchiv München (UAM)

In der Verdrängung der NS-Vergangenheit kooperierten Reissmüller und der ehemalige CSU-Oberbürgermeister Josef Listl (1893 bis 1970), der vor 1945 die Stadt für die NSDAP regiert hatte. Beide stellten sich ihre Persilscheine gegenseitig aus. Der viele Jahre amtierende CSU-Oberbürgermeister Peter Schnell unternahm in seiner Amtszeit (1972 bis 2002) nichts, um die NS-Vergangenheit von Listl oder Reissmüller aufzuarbeiten. Ebenso war es unter seinen beiden Nachfolgern, die für die CSU bis 2020 das Rathaus führten. Darin mag der Grund liegen, weshalb die CSU es bislang ablehnte, Reissmüller die Ehrenbürgerschaft unverzüglich abzuerkennen.

Listl wurde 2022 unter dem damaligen SPD-OB Christian Scharpf wegen seiner NS-Belastung die Ehrenbürgerschaft aberkannt - auch mit den Stimmen der CSU. Damals wollte die Stadt über den Antrag im Geheimen beschließen lassen. Der SPIEGEL hatte dazu im Vorfeld recherchiert und erkannte aufgrund der Gemeindeordnung keinen Grund für die Geheimhaltung. Das wurde durch die Regierung von Oberbayern bestätigt, über den Fall Listl wurde öffentlich entschieden.

Ebenfalls 2022 beschloss der Stadtrat, ein Gutachten über "Ingolstadt im Nationalsozialismus" in Auftrag zu geben, um auch die NS-Vergangenheit von Reissmüller zu untersuchen. Doch es dauerte bis Herbst 2024, ehe das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) beauftragt wurde. Die Arbeiten dazu haben 2025 begonnen; frühestens 2028 soll ein Ergebnis vorliegen.

So lange will Christian De Lapuente, Fraktionschef der SPD, nicht warten: "Es liegen mittlerweile genügend Fakten auf dem Tisch." Ob die anderen Fraktionen der Aberkennung auch zustimmen werden, sei unklar. Sie hätten abgelehnt, den Antrag von Beginn an mitzutragen. "Aber 80 Jahre nach Befreiung von Auschwitz und angesichts des Erstarkens rechtsextremer und völkischer Kräfte wäre dieses Signal notwendig und wichtig." Die CSU-Fraktion dagegen beharrte, sie wolle das Gutachten abwarten. Man müsse "alle relevanten Erkenntnisse berücksichtigen".

Überraschende Kehrtwende in der CSU

Charlotte Hermann-Janis aus Atlanta im US-Bundesstaat Georgia ist von dem Spiel auf Zeit irritiert und empört. Als Tochter von Juden, die 1938 aus Ingolstadt fliehen mussten, war sie im Spätsommer 2022 zu Gast in Ingolstadt, als dort eine Gedenktafel für ihre Familie angebracht wurde.

Charlotte Hermann-Janis (l.) am Mahnmal in Ingolstadt
Foto: Stadt Ingolstadt

Den Empfang bei der Bürgermeisterin, eine Begegnung mit Schülerinnen und Schülern, die in einem Projekt an ihren Vater Kurt erinnerten, und einen Abend im Barocksaal des Stadtmuseums, bei dem sie ihre Familiengeschichte erzählen konnte - all das hat sie in guter Erinnerung. Sie könne jedoch nicht verstehen, dass Ingolstadt Reissmüllers Ehrenbürgerschaft nicht umgehend aberkenne. Angesichts der eindeutigen Belege sei sie geschockt, schreibt sie.

Bis jetzt gaben sich CSU, FDP, FW und AfD uneinsichtig. Gemeinsam verfügen sie über eine knappe Mehrheit und könnten am Dienstag die sofortige Aberkennung verhindern. Doch CSU-Stadtrat Matthias Schickel, der bislang als beharrlicher Gegner einer sofortigen Aberkennung galt, kündigt im Gespräch mit dem SPIEGEL eine unerwartete Wende an. Die CSU gebe die bisherige Position auf und werde den Antrag auf Aberkennung unterstützen. "Es liegen inzwischen genug Belege für Reissmüllers NS-Nähe vor." Das Ergebnis der öffentlichen Abstimmung wird im Laufe des Tages erwartet.


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© infos-sachsen / letzte Änderung: - 06.06.2025 - 15:22