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Stand: 24.11.2023 15:55 Uhr | Lesedauer: 5 Minuten
Quelle: picture alliance/dpa/Markus Gayk
In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind die Fallzahlen im Bereich der Gewaltkriminalität um rund 17 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen. Vor allem im öffentlichen Raum, also auf Straßen und Plätzen, ist eine deutliche Zunahme zu verzeichnen, im privaten Wohnumfeld fiel der Anstieg weniger stark aus. Das geht aus Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) hervor.
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Von 1993 bis 2007 hatten es einen Rückgang der Fallzahlen gegeben. Die Corona-Pandemie sorgte unter anderem aufgrund der Ausgangsbeschränkungen dafür, dass es erneut deutlich weniger Fälle gab. Seit Ende der Pandemie nimmt die Gewaltkriminalität wieder zu, der starke Anstieg von 2021 auf 2022 ist nach Einschätzung aus Ermittlerkreisen "noch im statistisch erwartbaren Rahmen", weil damit die Rückgänge der Delikte in Corona-Zeiten ausgeglichen würden.
Die aktuelle Entwicklung sei nun aber "nicht mehr mit einem Nachholeffekt nach den pandemiebedingten Rückgängen erklärbar", sagte BKA-Präsident Holger Münch. "Der langfristige Abwärtstrend scheint beendet, der Anstieg der Gewaltkriminalität ist steil." Die erhobenen Zahlen bildeten zwar nur das erste Halbjahr ab, ließen aber einen allgemeinen Trend erkennen.
Münch und führende Polizeigewerkschafter fordern angesichts des massiven Anstiegs der Gewaltkriminalität in Deutschland im ersten Halbjahr eine Neujustierung der Strafverfolgung. Man könne auf die Herausforderungen infolge der deutlichen Zunahme von Delikten "nicht immer nur mit mehr Personal antworten", sagte Münch auf der BKA-Herbsttagung in Wiesbaden. "Entscheidend ist eine konsequent wirkungsorientierte Ermittlungsarbeit, und dazu müssen wir die Zusammenarbeit mit der Justiz auf eine neue Grundlage stellen", so der BKA-Präsident laut Redemanuskript.
"Wir brauchen dringend eine personelle Verstärkung der Justiz und auch eine konsequentere Anwendung und Ausreizung des Strafmaßes", fordert der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei für die Bundespolizei, Andreas Roßkopf. "Straftäter werden häufig erst Monate später rechtlich verurteilt. Die Anwendung des Strafmaßes ist oft sehr zurückhaltend", sagte Roßkopf WELT.
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Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Heiko Teggatz, erklärte, notwendig sei eine Modernisierung der Polizeigesetze. "Nötige Instrumente sind Präventivbefugnisse wie das Unterbindungsgewahrsam, das vorbeugende Haft erlaubt, und die Möglichkeit, mittels Allgemeinverfügungen Veranstaltungen im Vorfeld untersagen zu können. Der Bund und das Land Berlin liegen da zurück, Bayern weit vorn."
Nach den Zahlen des Bundeskriminalamts lag der Anstieg der Zahl nicht-deutscher Tatverdächtiger im Vergleich zum Vorjahreshalbjahr bei plus 23 Prozent, bei deutschen Tatverdächtigen waren es acht Prozent. Erklärbar ist das unter anderem durch den zuletzt starken Zuzug von Migranten nach Deutschland. Aufgrund der Bevölkerungsverteilung sei die große Mehrheit der Tatverdächtigen weiterhin Deutsche, betonte der BKA-Präsident. "Gesagt werden muss aber auch, dass das nichts daran ändert, dass die Kriminalitätsbelastung bei nicht-deutschen Tatverdächtigen höher ist", so Münch. "Dies liegt jedoch nicht an der Herkunft, sondern an der größeren Häufung von Kriminalität begünstigenden Risikofaktoren in dieser Gruppe."
Aufgeschlüsselt nach Tatorten gab es in Aufnahmeeinrichtungen und Asylbewerberunterkünften mit einem Plus von 244 Prozent den mit Abstand größten Anstieg von Gewaltfällen im ersten Halbjahr. BKA-Experten verweisen dabei auf ein bekanntes Phänomen, wenn Menschen in einem fremden Umfeld ankommen und nach kurzer Zeit weiterzögen. In Milieus mit hohem, aber etabliertem Migrantenanteil sei die Quote der Gewalttaten durch nicht-deutsche Tatverdächtige deutlicher geringer.
Auffällig ist außerdem der deutlich steigende Anteil jugendlicher Tatverdächtiger. Bei deutschen Jugendlichen und Kindern lag das Plus bei zwölf Prozent, bei nicht-deutschen Minderjährigen betrug es 37 Prozent.
Die BKA-Ermittler sehen für die Zunahme der Gewaltkriminalität drei Faktoren: Zum einen die nach Corona gestiegene Mobilität der Menschen. Sind mehr davon unterwegs oder gehen aus, ergeben sich mehr Tatgelegenheiten. Zum anderen wird erstmals seit Jahren in der Bevölkerung die Inflation als wesentliches Problem wahrgenommen. Nachweisbar ist der Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung und Gewaltkriminalität durch deutlich höhere Fall- und Verdächtigenzahlen in ökonomisch schwächeren Regionen Deutschlands.
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Zuletzt spielt die Zuwanderung eine Rolle, da, so die BKA-Experten "viele Schutzsuchende mehrere Risikofaktoren aufweisen, die Gewaltkriminalität wahrscheinlicher machen". Zu diesen Faktoren gehört, sich in einem fremden Umfeld mit unsicherer Zukunft und unsicheren wirtschaftlichen Bedingungen wiederzufinden. An Orten mit Menschen, die in ähnlich unsicheren und finanziell stark begrenzten Verhältnisse leben, häufig in engem Kontakt und mit häufig wechselnden Personen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen.
Insgesamt seien die Menschen derzeit in Deutschland vielfältigen Unsicherheits- und Stressfaktoren ausgesetzt, ausgelöst durch innen- und außenpolitische Krisen, sagte der BKA-Präsident laut Manuskript. Zugleich stünden tradierte Sicherheiten - gewohnte Lebens- und Arbeitsformen -, auf dem Prüfstand, würden neu verhandelt und seien in Auflösung begriffen. Das sei kein neues Phänomen, so Münch. "Der aktuelle Transformationsprozess zeichnet sich aber durch vier Besonderheiten aus: die hohe Geschwindigkeit, die Gleichzeitigkeit, die hohe Komplexität und die Interdependenzen der Veränderungen. Alles, vom kleinen bis ins große Ganze scheint fragil, in Un- und Neuordnung."
Das sei einer der Nährböden für zunehmende Kriminalität, der man mit "konsequenter bürgernaher Polizeiarbeit und die konsequente Durchsetzung des Rechts" begegnen müsse.
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Die Zunahme an politisch motivierter Kriminalität zeigt nach Ansicht der BKA-Experten die Zuspitzung politischer und gesellschaftlicher Spannungen. So ist die Zahl der politisch motivierten Gewaltdelikte seit 2018 um 20 Prozent angestiegen. Im Bereich der Hasskriminalität gibt es im Fünfjahres-Vergleich einen Anstieg um 42 Prozent.
Straftaten, die sich gegen Amts- und Mandatsträgerinnen und -träger richten, sind demnach seit 2018 um 232 Prozent gestiegen. "Wir erleben tatsächlich einen Wandel. Der schlechte Umgang, der Ton, die Brutalität und die Aggressivität in der Öffentlichkeit sind stark angestiegen", sagte Polizeigewerkschafter Roßkopf. "Es gibt Bereiche in Ballungszentren, in denen nur noch mit Mannschaftswagen Streife gefahren werden kann."
Der Vizechef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Teggatz, forderte, dass No-go-Areas und gesetzlose Problemzonen wie in Berlin-Neukölln, Dortmund-Nord oder Essen nicht länger hingenommen werden dürften. "Es darf keine Gettobildung zugelassen werden. Wo sich solche Zonen bilden, müssen die aufgelöst werden. Dafür brauchen die Polizeien das nötige Personal und die richtige Ausstattung. Beides ist nicht in dem Maße, wie es notwendig wäre, vorhanden."