Aus Vietnam berichtet:
Laura Höflinger
Zwei Wochen lang reiste SPIEGEL-Korrespondentin Laura Höflinger mit US-Veteranen durch Vietnam. Für die Männer war es die erste Rückkehr seit mehr als 50 Jahren. In Hanoi traf Höflinger den früheren G. I. Craige Edgerton. Heute, mit fast achtzig, fragt er sich, wie viele Menschen er getötet hat.
Edgerton trug einen Brief bei sich: den Liebesbrief einer Vietnamesin an ihren Freund, einen vietnamesischen Soldaten. Edgertons Freund hatte den Mann im Krieg erschossen und den Brief an sich genommen. Nun hofften die beiden, die Absenderin ausfindig zu machen.
"In den Augen der Veteranen war der Krieg ein Fehler und ihre eigene Rolle darin beschämend", sagt Höflinger. Deswegen seien die Männer zurückgekehrt. "Es geht ihnen um Wiedergutmachung."
Es ist der elfte Tag der Reise, ein heißer, feuchter Nachmittag. Ein Huhn gackert, die Luft riecht nach verbranntem Holz, als der ehemalige amerikanische Soldat die Sandalen abstreift und zögernd und barfuß das Haus betritt. Als er das letzte Mal in Vietnam war, war er jung und bewaffnet. Jetzt, 55 Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Dschungel, ist Craige Edgerton ein alter Mann.
Auf einer Bastmatte liegt ein junger Mann unter einer dünnen Decke, den Kopf auf zwei Kissen. Seine Glieder sind abgemagert, der Rücken ist gekrümmt, das Gesicht eingefallen. Seit seiner Geburt ist er gelähmt; nur seine Augen schweifen durch den Raum.
Edgerton nimmt die schmale Hand des Mannes. Er habe die weiche Haut gefühlt und - so wird er es später erzählen - gedacht: "Eine Hand, die nie benutzt wurde." Dann treffen sich ihre Blicke. Edgerton macht sich los und stolpert ins Freie.
Draußen sinkt er auf eine Mauer. Die Brille baumelt an einer Schnur um den Hals, seine Schultern sacken herab. Er atmet tief ein. Es hilft nicht.
Die Erinnerung kommt dennoch. Da sind Sandsäcke, Bunker, kahle Hügel. Geschütze ragen in die Höhe. Lichter zucken über den Himmel.
Edgerton vergräbt den Kopf in den Händen - und weint.
"Wie viele Menschen habe ich getötet? Wie viele Soldaten? Wie viele Zivilisten?"
Craige Edgerton
Foto: Linh Pham / DER SPIEGEL
In diesem Moment ist es für ihn wieder 1969. Um ihn herum der Krieg. Edgerton war einer von rund 2,7 Millionen amerikanischen Soldaten, die die USA nach Vietnam schickten. Als Leutnant befehligte er sechs Haubitzen. Er selbst habe nie geschossen. Er saß bloß im Bunker, Kopfhörer auf, und gab Befehle weiter. Kanone eins, Feuer. Kanone vier, Feuer. Aber das ist ja das Problem.
105-Millimeter-Haubitzen feuern kilometerweit. So weit, dass die Männer an den Geschützen meist nicht sehen, wo ihre Geschosse einschlagen.
"Wir wussten nie, worauf wir zielten. Wir haben einfach abgedrückt. Heute denke ich: verdammt. Wie viele Menschen habe ich getötet? Wie viele Soldaten? Wie viele Zivilisten?"
Die Frage ist der Grund, warum er Mitte Oktober, elf Tage vor seinem Zusammenbruch, ein halbes Jahrhundert nach seinem Einsatz, mit Rollkoffer und Rucksack auf den Parkplatz des Flughafens Hanoi tritt. Ein großer, sonnengebräunter Mann mit breiten Schultern, die sich ein wenig nach vorn neigen. Vor ihm wartet der Reisebus. Hinter ihm liegen 20 Stunden Flug: Kalifornien-Taiwan-Hanoi.
Foto: privat
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Er ist jetzt 78 Jahre alt. Zum ersten Mal seit Kriegsende ist er wieder in Vietnam. Beim Einsteigen zieht er ein Bein leicht nach. Der Busfahrer reicht ihm die Hand.
Mit ihm reisen 17 Personen: acht Vietnamveteranen, ihre Angehörigen und Antikriegsaktivisten. Die Organisation "Veterans for Peace" hat die Tour organisiert. Zwei Wochen lang werden die Amerikaner das Land durchqueren, von Hanoi im Norden bis Saigon im Süden, über den 17. Breitengrad hinweg, der Vietnam einst in zwei Länder teilte.
Sie werden Waisenhäuser besuchen, Friedhöfe, auf denen ihre einstigen Feinde begraben liegen. Sie werden mit vietnamesischen Veteranen sprechen, im Südchinesischen Meer schwimmen und auf langen Busfahrten über den Krieg reden. Darüber, was Vietnam mit ihnen gemacht hat - und sie mit Vietnam.
Dieses Jahr jährt sich das Ende des Vietnamkriegs zum 50. Mal. Zwischen 1955 und 1975 starben rund 58.000 amerikanische Soldaten und geschätzte zwei Millionen Vietnamesen. Der kommunistische Norden kämpfte gegen den kapitalistischen Süden - und stellvertretend kämpften die Großmächte dieser Zeit: die Sowjetunion und China auf der einen, die USA auf der anderen Seite. Der Krieg politisierte eine ganze Generation, auch in Deutschland. In der BRD forderte die 68er-Bewegung das Ende des Imperialismus. In der DDR spendeten Menschen Blut für den sozialistischen Bruderstaat. Und in den USA erhielt der Fotograf Nick Ut 1973 den Pulitzer-Preis. Sein prämiertes Schwarz-Weiß-Bild zeigte die neunjährige Phan Thi Kim Phuc, nackt, die Haut von der Brandwaffe Napalm zerstört.
Vietnam war auch der erste Krieg, den die USA verloren.
Am 30. April 1975 fiel Saigon, der Süden und Norden des Landes wurden unter kommunistischer Führung wiedervereinigt. Ein armes Land hatte die größte Militärmacht der Welt besiegt.
Dabei hatten die USA alles darangesetzt, den Krieg zu gewinnen. Hatten mehr Bomben abgeworfen als im gesamten Zweiten Weltkrieg und eine Waffe eingesetzt, deren Folgen noch lange nachwirken sollten: Herbizide, die nicht nur Blätter vernichteten, sondern Menschen vergifteten, die Bevölkerung Südostasiens wie auch die eigenen Soldaten. Agent Orange, das bekannteste Entlaubungsmittel, ließ Krebsraten steigen. Frauen brachten tote oder schwer behinderte Babys zur Welt, manche mit sechs Fingern an einer Hand.
Der Vietnamkrieg veränderte die Art, wie die Welt die USA sah - und die USA sich sahen. Er rüttelte am Selbstbild einer Nation, die von ihrer eigenen Unfehlbarkeit überzeugt gewesen war.
Die alten Veteranen waren nicht die erste Generation Amerikaner, die in den Krieg gezogen war. Aber die erste, die sich fragte, ob es richtig war.
Deshalb sind Edgerton und die anderen hierher zurückgekehrt.
In Hanoi rollen die Amerikaner jetzt im Bus über den Roten Fluss in die Stadt. Draußen flimmert die Hitze über den Dächern, drinnen surrt die Klimaanlage. Vor der Windschutzscheibe wippen bei jeder Bodenwelle drei Flaggen im Gleichklang, als wären sie nie Feinde gewesen: die USA, Vietnam und die Kommunistische Partei. In den Reihen sitzt ein Stahlbauer aus Oakland, der damals noch vor den meisten Soldaten ankam und die Logistik für den Einsatz anlegte, Baracken, Treibstofftanks, Hangars. Ein Waffenmechaniker aus New York City. Ein Infanterist aus San José, der zusehen musste, wie ein feindlicher Scharfschütze seinen Kameraden erschoss.
Und dazwischen Edgerton, ebenfalls aus San José, Kalifornien, ein zerfleddertes Notizbuch auf dem Schoß, darin Notizen über seine Gefühle und Ideen für Gedichte.
Er ist mit seiner Frau angereist, und manchmal zeigen sie einander Dinge, die ihnen im Vorbeifahren auffallen: die roten Fahnen mit Hammer und Sichel an den Laternen. Die Hochhäuser, die so hoch in den Himmel ragen, dass sie die Köpfe in den Nacken legen müssen. Lange habe er es sich nicht eingestehen wollen, sagt Edgerton. Aber er hatte damals Lust auf Krieg.
Foto: Linh Pham / DER SPIEGEL
Er sei in Texas aufgewachsen, wo sie als Kinder am Strand den Zweiten Weltkrieg nachspielten. Stöcke als Gewehre, amerikanische Soldaten schießen auf deutsche Nazis, das Gute triumphiert über das Böse. So habe er sich seinen Dienst an der Waffe vorgestellt, als er sich mit 19 Jahren als Soldat der Marines einschrieb, der angeblich härtesten Truppe des amerikanischen Militärs, geformt für besonders riskante Einsätze.
"Wow", ruft der Infanterist vorn. "Die haben hier einen Kentucky Fried Chicken!"
Es ist die erste Erkenntnis dieser Reise: Amerika verlor den Krieg, aber der Kapitalismus siegte.
Keiner der Neuankömmlinge hat Hanoi je gesehen. Während des Kriegs war die Stadt Feindesland, Rückzugsort von Ho Chi Minh, dem Anführer des kommunistischen Nordens. Die einzigen Amerikaner, die hierherkamen, waren abgestürzte Bomberpiloten in Gefangenschaft.
Es klingt wie eine widersinnige Idee: an den Ort zurückzukehren, der einen verfolgt. Doch Chuck Searcy, 80 Jahre alt, der einen Strohhut und ein zu weites Sakko trägt, findet: Für Veteranen gibt es kaum eine bessere Entscheidung. Er wankt durch den Mittelgang, das Mikro in einer Hand, die andere als Stütze am Gepäckfach. "Willkommen zurück in Vietnam!", sagt er. "Sie werden überrascht sein, wie freundlich hier alle sind."
Auch Searcy hat in Vietnam gedient. Allerdings war er nie im Gefecht. So wie viele der im Land stationierten Amerikaner. Er saß in Saigon und analysierte für einen militärischen Nachrichtendienst den Kampfverlauf. Ein Großteil seiner Arbeit habe sich darum gedreht, Zahlen so schönzurechnen, dass man in den USA an den Sieg glauben konnte. Fast 30 Jahre später habe er im Flugzeug zurück nach Vietnam gesessen, weil er wissen wollte, wie das Land zu Friedenszeiten aussah. Aber war das nicht verrückt?
"Alle kehren als andere Menschen zurück." Chuck Searcy
Foto: Linh Pham / DER SPIEGEL
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Die Gassen und französischen Kolonialvillen Hanois gefielen ihm. Er blieb, radelte überallhin und versorgte Kriegsversehrte mit Prothesen. 2000 half er, Bill Clinton zu überzeugen, als erster US-Präsident nach dem Krieg Vietnam zu besuchen. Und irgendwann begann er, Veteranen durch die einstige grüne Hölle zu führen.
Es gab eine Zeit, da fürchtete Searcy in Vietnam um sein Leben. Heute findet er die Vorstellung, hier zu sterben, eigentlich ganz schön.
"Als ich aus dem Krieg heimkehrte, war ich wütend und verwirrt", erzählt er den anderen. Er habe die Pflicht gespürt, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Und bald bemerkt: Indem er die Beziehungen zwischen den USA und Vietnam reparierte, reparierte er ein Stückchen sich selbst. Den Männern im Bus verspricht er dasselbe: "Alle kehren als andere Menschen zurück."
Das ist die Idee dieser Reise: Wer das neue Vietnam erlebt, kann das alte leichter vergessen. Wer hilft, die Wunden des Krieges zu schließen, heilt die eigenen. Jeder Teilnehmer zahlt zusätzlich zu den Reisekosten 1000 Dollar. Auf zehn Reisen seit 2012 kamen so mehr als 230.000 Dollar Spenden zusammen. Die Veterans for Peace unterstützen Waisenhäuser, die Opfer von Agent Orange und Krankenhäuser. Es ist der Versuch der Wiedergutmachung.
Draußen vor dem Bus schieben Frauen in leuchtend blauen und roten Kleidern Kinderwagen durch die Parks. Der Waffenmechaniker aus New York schaut ihnen nach. Heute ist das erste Mal, dass er Vietnam wirklich sieht. Als 20-Jähriger diente er hier ein Jahr lang bei der Luftwaffe. Er belud die Langstreckenbomber auf dem Rollfeld mit Munition. Wenn er die Bevölkerung zu Gesicht bekam, dann meist durch Stacheldraht.
Foto: U.S. Air Force / Getty Images
Einmal, erzählt Searcy, rief ein Veteran am Tag vor der Abreise an: "Ich kann das nicht", habe er gesagt. Bald darauf habe er dann doch am Flughafen in Hanoi gestanden. Ein massiger Kerl, der schluchzte, während schmale Vietnamesen ihm auf die Schulter klopften und sagten: "Es ist okay. Amerika und Vietnam sind jetzt Freunde."
Searcy ist nicht der erste Rückkehrer. Schon in den Achtzigerjahren schickten Ärzte Veteranen zur Überwindung ihrer Traumata durch klaustrophobische Tunnel. Männer mit langen Haaren sprachen von Heilung: Vietnam sei das Land, in dem ihre Kindheit endete. Die Rückkehr, ihre Wiedergeburt als Mann.
Jetzt, da ihre Haare grau geworden sind und ihre Rücken rund, wächst das Bedürfnis offenbar wieder vermehrt bei vielen. Die Soldaten von einst wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt.
Am Abend sitzt Edgerton im Frühstücksraum des Hotels. Er legt einen weißen Ordner auf den Tisch. Darin, geschützt durch Klarsichtfolien, der erste Entwurf eines Buches über traumatisierte Soldaten, an dem er mit anderen Veteranen schreibt.
Er erzählt, wie er im April 1969 in Vietnam an Land ging. Wobei er sich manchmal nicht sicher ist, ob seine Erinnerungen genau so passiert sind oder ob sein Gedächtnis die Lücken mit Bildern füllt. "Ich habe etwa diese Szene im Kopf, wie mich ein Jeep zur entmilitarisierten Zone bringt. Am Wegesrand laufen vietnamesische Frauen." Im Jahr zuvor hatten nordvietnamesische Truppen und der Vietcong überraschend zahlreiche Städte und Militärbasen im Süden angegriffen. In Paris fanden die ersten, jedoch noch jahrelang erfolglosen Friedensverhandlungen statt. Nach seiner Ankunft auf dem Stützpunkt habe der Bataillonskommandeur ihm nicht in die Augen geschaut. Der Mann habe wohl gedacht: "Noch so ein junger Kerl, den wir im Leichensack nach Hause schicken."
Seine neue Heimat war eine Feuerunterstützungsbasis im Wald, eine Stellung auf einem Hügel, von dem aus sich die Täler überblicken und beschießen ließen. Es roch nach Schweiß und Diesel. Über ihm dröhnten die Helikopter. Als Leutnant kommandierte er sechs Geschütze und ein Dutzend Männer. Er war 23 Jahre alt. Heute sagt er: "Ich hasse es, das zuzugeben. Aber ich habe es verdammt noch mal geliebt."
Foto: Privat
Der Krieg erschien ihm wie ein Abenteuer, und lange Zeit war er das auch. Auf ihrer Militärbasis füllten die Soldaten leere Munitionskisten mit Sand und bauten daraus Hütten. In den Tälern krochen riesige Blutegel durch meterhohes Elefantengras, so scharf, dass es die Haut aufschnitt. Den Feind sahen sie nie. Sie saßen auf ihrem Hügel, mit nacktem Oberkörper wegen der Hitze, ein paar Teenager und junge Männer, die Artillerie in den Dschungel feuerten. Manchmal gingen sie im See schwimmen.
Die Probleme begannen später. "Wumms", sagt Edgerton und schlägt die Hand auf den Tisch.
Mehr als 30 Jahre nach dem Krieg stand er im Supermarkt vor den Regalen, als hinter ihm eine Palette zu Boden knallte. Edgerton habe sich hinter den Einkaufswagen gekauert, die Hände über den Ohren. Als stünde er unter Beschuss.
"Alkohol, Albträume, gescheiterte Beziehungen. Jeder kannte die Geschichten von Veteranen, denen das Leben entgleitet", sagt er. Sich selbst zählte er nicht zu den Problemfällen. Er war glücklich in zweiter Ehe, hatte zwei Töchter, Enkelkinder. In seiner Freizeit beobachtete er durchs Fernglas Vögel in Nationalparks.
Doch dabei blieb es nicht. Bei einem Geschäftsessen warf er sich zu Boden, als ein Flugzeug über sie flog. Ein Kriegsfilm löste einen Weinkrampf in ihm aus. Und dann war da diese unbändige Wut auf die Regierung. Trotz eines Abschlusses in Wirtschaftswissenschaften zog er es lange vor, einen kleinen Laden für Bilderrahmen zu führen. Wenn andere patriotische Lieder sangen, schwieg er aus Protest.
Foto: Linh Pham / DER SPIEGEL
Foto: Linh Pham / DER SPIEGEL
Ein Mitreisender vergleicht verdrängte Kriegserinnerungen mit einer geschüttelten Sprudelflasche: "Lange passiert nichts - dann genügt eine Kleinigkeit, der Deckel löst sich und - zzzzzzzzsch."
Mit 70 Jahren, 47 Jahre nach seinem Einsatz, erhält Edgerton die Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung. Er beginnt eine Therapie. Zum ersten Mal spricht er über das, was er gesehen hat - und womöglich getan.
Er hält inne. Es gibt Erinnerungen, über die er nicht gern redet. Schließlich tut er es doch. Da war das eine Mal, als eine Sprengfalle einem Soldaten das Bein abriss und Edgerton die Evakuierung leiten sollte. Der Hubschrauber konnte im Dunkeln nicht landen, die Nacht hindurch hörten sie die Schreie des Mannes, erzählt er. Edgerton sagt, er wisse nicht, ob der Mann überlebt hat. Oft sieht er noch das "leere Gesicht" eines Kameraden vor sich, den sie nackt und mit Fliegen übersät im Wald fanden. Der Mann hatte wohl den Verstand verloren.
In seinem Ordner steckt ein Zettel, auf dem Edgerton notiert hat, warum er nach Vietnam zurückkehren wollte. "Ich hoffe, die Schuldgefühle und die Wut zu reduzieren."
Aber es sei wie das Häuten einer Zwiebel, sagt er. "Immer, wenn ich denke, ich bin am Ziel, finde ich eine weitere Schicht."
Am Morgen des dritten Tages haben sie vietnamesische Beamte getroffen. Edgerton saß an einem langen Holztisch. Die Wände waren dunkelrot getäfelt. Eine Büste Ho Chi Minhs schaute ihm über die Schulter. Das Mikro knarzte. Edgertons Stimme hallte im Raum. "Ich bin auf den Monat genau vor 55 Jahren aus Vietnam zurückgekehrt", sagte er. "Und ich verstehe nicht. Wie kann das vietnamesische Volk so nachsichtig sein? Warum sind die Vietnamesen nicht wütend auf uns?"
Ein Mann in dunkelgrüner Uniform erhob sich und sagte, was die Veteranen auf dieser Reise immer wieder hören werden: "Wir sind überzeugt, dass viele US-Soldaten nicht kämpfen wollten. Sie folgten Befehlen."
Draußen vor dem Bus schiebt eine Frau ein mit Drachenfrüchten und Bananen beladenes Fahrrad vorbei. Edgerton lehnt die Stirn ans Fenster. Er überlegt, warum die Vietnamesen keinen Zorn zeigen. Wegen des Buddhismus? Weil die meisten zu jung sind, um den Krieg erlebt zu haben? Oder weil er nur einer von vielen Kämpfen für die Unabhängigkeit war?
"Sie haben uns belogen."
Craige Edgerton
Foto: Leif Skoogfors / Getty Images
Und wenn die Vietnamesen ihm verzeihen, heißt das, dass er auch sich selbst verzeihen darf? Er reibt sich mit den Handballen über die Augen. "Ich will mir vergeben", sagt er. "Aber es fällt mir schwer."
Bevor er in den Krieg zog, feierten seine Freundin, seine Freunde und er eine Party. Wenn er zurückkäme, dann als Retter der Welt. Dachte er. Sieben Monate später war er wieder in Texas. Aber da traf er nur auf Unverständnis.
Für die Linke im Land war Edgerton ein Täter. Für die Rechte ein Verlierer.
Nach dem Militärdienst 1971 habe er Uniform und Medaillen weggeworfen, ließ sich einen Schnurrbart stehen, die Haare wachsen. Er ignorierte die Nachrichten, und wenn jemand über Vietnam sprach, tat er so, als wäre er nie dort gewesen. Wenn sein Land den Krieg vergessen wollte, würde er dasselbe tun.
Viele Jahre später sah er eine Doku. Er begriff, was längst an die Öffentlichkeit gesickert war. Dass die USA offiziell in den Krieg eingetreten waren, um den Süden zu unterstützen und den Kommunismus zu stoppen - aber dass Washington früh erkannt hatte, dass der Krieg aussichtslos war. Trotzdem schickte das US-Militär immer weiter junge Frauen und Männer nach Südostasien, mehr Bomben, mehr Napalm.
Ob man den Begriff der moralischen Verletzung kenne? Wenn ein Mensch seine beruflichen Pflichten erfüllt, seine Taten aber mit den eigenen Werten kollidieren. "Ich bin in der katholischen Kirche aufgewachsen. Ich wurde mit bestimmten Moralvorstellungen und Prinzipien erzogen", sagt Edgerton. "Ich trat dem Militär bei, um mein Land zu verteidigen. Ich wollte das Richtige tun. Und tat das Falsche."
Laut einer Studie des amerikanischen Kriegsveteranenministeriums litten 15 Prozent der etwa 2,7 Millionen nach Vietnam entsandten Soldaten im Jahr 1983 an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Im Krieg starben rund 58.000 US-Soldaten. Mehr als 22.000 begingen danach Suizid.
Foto: John Olson / Getty Images
Vielleicht, weil der Vietnamkrieg nicht als "gerechter Krieg" galt. Weil es das eine ist, als Soldat zu töten. Aber etwas anderes, wenn man erkennen muss, es aus den falschen Motiven getan zu haben.
"Eine Erinnerung taucht immer wieder auf", sagt Edgerton. Eines Tages habe er den Rand des Stützpunkts kontrollieren müssen. Im Dickicht, dort, wo sonst die amerikanischen Mörsergranaten niedergingen, traf er auf eine Frau mit ihren Kindern. "Ihr Anblick zerriss mich. Sie kämpften ums Überleben, während wir ihre Welt in die Luft jagten." Heute denkt er: "Vielleicht begannen meine Schuldgefühle schon damals."
Es ruckelt, dann bremst das Flugzeug der Reisegruppe auf dem Rollfeld von Da Nang. Hier, wo das Südchinesische Meer auf die dunklen Berge Zentralvietnams trifft, lag einst die größte US-Militärbasis des Krieges. 1965 gingen die ersten US-Soldaten am Strand an Land.
In der Abenddämmerung, ein Bier neben sich, zeigt Edgerton auf dem Tablet eingescannte Fotos aus dem Krieg. "Hier", sagt er, "das war toll." Auf dem Bild kniet er oberkörperfrei, Funkgerät um den Hals, auf dem Hügel der Feuerunterstützungsbasis. In der Ferne schimmern hell die Berge. Er erinnert sich gern an die Abende, wenn es abkühlte, die Affen in den Baumwipfeln brüllten und die Sonne über dem Nachbarland Laos versank.
Edgerton lehnt sich zurück. Die halbe Reise ist vorbei. "Es ist beeindruckend, wie die Vietnamesen ihr Land umgekrempelt haben", sagt er. Er hat junge Vietnamesen und Politiker getroffen, einem ehemaligen Hauptmann des vietnamesischen Militärs die Hand geschüttelt, seinem alten Feind.
Die Begegnungen haben ihn beeindruckt. Aber manchmal auch frustriert. Vor der Abreise notierte er sich Fragen: Wie seht ihr den Krieg? Wie sprecht ihr mit euren Familien über eure Erinnerungen? Was beschäftigt euch?
Doch es entwickeln sich keine richtigen Gespräche. Liegt es an der Sprachbarriere? Oder daran, dass die Vietnamesen lieber über alles andere sprechen wollen als die Vergangenheit? Für die amerikanischen Veteranen ist der Krieg ein Riesenthema, für viele Vietnamesen hingegen: Geschichte.
Die meisten sind zu jung, um den Krieg selbst erlebt zu haben, und in der Schule lernen sie das, was die Kommunistische Partei vorgibt: "Wir haben gewonnen. Heute sind wir ein Land, das in die Zukunft schaut."
Nach dem Krieg gehörte Vietnam zu den ärmsten Ländern der Welt. Heute ist es ein repressiver, aber wirtschaftlich erfolgreicher Einparteienstaat. Es produziert jedes zweite Samsung-Handy und verschifft mehr Pfeffer in die USA als jedes andere Land.
Tagsüber, als sie durch Da Nang fuhren, saß Edgerton in der Mitte des Busses. Hinter ihm hatte der Stahlbauer aus Oakland Platz genommen. Er war einer der ersten Soldaten, die hier 1965 in Da Nang an Land gingen. Seine Mission: die Infrastruktur des Krieges zu bauen.
Tags zuvor, über eine Landkarte gebeugt, hatte der Stahlbauer überlegt, ein Auto zu mieten und zum Gebäude des alten Truppenladens zu fahren. Wenn er jetzt aus dem Busfenster schaute, erkannte er, wie albern die Idee gewesen war: Am China Beach, wo er einst schwamm, schaufelten nun Bagger Platz für das nächste Ferienresort. Mopeds und Elektrobusse wälzten sich über vierspurige Straßen. Selbst der Wald auf den Hügeln sieht nur noch aus der Ferne aus wie Dschungel. Heute wachsen dort Akazien für die Möbelindustrie.
Es tut Edgerton gut, ein Land zu sehen, das ganz anders ist als das in seiner Erinnerung. Vielleicht kann er bald selbst glauben, was er vor Jahren in einer Therapiesitzung formulierte: "Ich war im Krieg. Ich war nicht der Krieg."
Nach drei weiteren Tagen ist die Leichtigkeit verflogen.
Da, an Tag zehn, in Quang Tri, der nördlichsten Provinz des ehemaligen Südvietnams, steht Edgerton in einem Besucherzentrum. Um ihn herum: Stacheldraht, Prothesen, Metalldetektoren. Er beobachtet, wie ein Vietnamese mit einer Krücke vor eine Gruppe Zweitklässler humpelt. Das rechte Auge des Mannes ist vernarbt, ein Arm endet unterhalb des Ellenbogens.
"Was ist das?", fragt der Mann die Kinder in ihren rot-beigen Schuluniformen und deutet auf den Bildschirm an der Wand.
"Handgranate!", rufen die Kinder.
"Und das?"
"Mörser!"
Die Veteranen besuchen "Projekt Renew", einen Bombenräumungsdienst, den Searcy gegründet hat. Seit 2001 bargen seine Mitarbeiter mehr als 120.000 Blindgänger aus der rotbraunen Erde von Quang Tri. Zwischen zackigen Hügeln und immergrünen Tropenwäldern verlief hier die entmilitarisierte Zone, die Vietnam in zwei Hälften schnitt. Nirgendwo sonst bombardierten die Amerikaner heftiger.
Ein US-Kriegsreporter, der 1972 über Quang Tri flog, beschrieb die Provinz als Panorama aus Kratern: "Kein einziges festes Gebäude blieb unversehrt: keine Privatwohnungen, keine Schulen, keine Kirchen oder Krankenhäuser." Edgerton war hier stationiert.
"Wisst ihr, wie ich meinen Arm verloren habe?", fragt der Mann mit der Krücke. Er sei zehn gewesen, als er mit zwei Cousins eine Streubombe fand - so klein wie ein Tennisball. Er habe mit einem Stein darauf geschlagen, um zu sehen, was passiert. Seine Cousins seien bei der Explosion ums Leben gekommen, er überlebte.
Foto: Linh Pham / DER SPIEGEL
Foto: Linh Pham / DER SPIEGEL
"Was müsst ihr tun, wenn ihr eine Bombe findet?", ruft der Mann. "Nicht anfassen! Hilfe holen!", schreien die Kinder, und dann singen sie mit ihren hellen Stimmen die Notrufnummer.
An den Wänden zeigen Schwarz-Weiß-Fotos B-52-Bomber und flüchtende Menschen. Edgerton und die Veteranen gehen von Bild zu Bild. Ein Mädchen mit Pferdeschwanz will den Amerikanern vorführen, was sie gelernt hat. Sie deutet auf verkrustete Munition. "Bom chum", sagt sie - das vietnamesische Wort für Streubombe. Edgerton wirkt betroffen. Darum gehe es bei der Reise, sagt er: zu sehen, was Amerika angerichtet habe.
Schätzungsweise ein Zehntel der US-Bomben detonierte nicht. Bis 2014 starben laut vietnamesischer Regierung 40.000 Menschen durch Blindgänger, 60.000 wurden verletzt. Viele von ihnen Kinder.
Auf dem Rückweg bleibt Edgerton vor einem Artilleriegeschoss stehen. Genau solche ließ er einst in den Dschungel feuern. Jemand hat eine getrocknete Blume in die leere Hülse gesteckt. Er macht ein Foto.
Krieg und Frieden in einem Bild.
Fühlt er sich verantwortlich, wenn er all den Sprengstoff sieht? "O ja", flüstert er.
Später im Bus sind alle still.
Es gibt Kritik an den Veteranenreisen. Die australische Historikerin Mia Hobbs, die über zurückkehrende Vietnamveteranen promoviert hat, sagt: "In ihrem eigenen Land werden die Vietnamesen in die Rolle des Fürsorgers gedrängt."
In den USA hat sich herumgesprochen, dass Vietnam Veteranen herzlich empfängt. Sie kommen ins Land und sprechen über ihren Schmerz. Die Vietnamesen halten ihnen die Hand. Und die Amerikaner sind, was sie schon damals sein wollten: zerrissene Helden.
Edgerton hat in seinem Buch einen Satz notiert, den er auf der Reise hörte und nun wiederholt: "Vietnam ist ein Land, kein Krieg." Vor allem junge Vietnamesen sprechen so. Sie sind manchmal genervt, auf eine schreckliche Erinnerung reduziert zu werden. Der Satz hat Edgertons Perspektive verändert. "Während ich mich jahrelang in Selbstmitleid verlor, haben die Vietnamesen ihr Land wieder aufgebaut."
Sein Therapeut habe ihn vor der Abreise gefragt, was die Reise zu einem Erfolg machen würde. Edgertons Antwort: "Wenn die letzte Schicht der Zwiebel fällt."
Viel Zeit bleibt ihm nicht. Es ist Tag elf, morgen geht es nach Ho-Chi-Minh-Stadt, das frühere Saigon, und von dort bald zurück in die USA. Und tatsächlich: Im Bezirk Gio Linh, an einem Ort, wo er ihn nicht vermutet hat, glaubt Edgerton den Kern der Zwiebel zu finden. Warum gerade hier? Vielleicht, weil er hier früher stationiert war. Aber auch, weil jetzt etwas geschehen muss, damit die Reise nicht umsonst war.
Am Morgen hat es geregnet, die Berge schimmern blauschwarz. Bauern stapfen durch vom Monsun überflutete Reisfelder. Der Bus hält am Straßenrand. Edgerton und die anderen steigen aus und laufen über einen Pfad zu einem Haus aus Stein. Auf der Veranda wartet Ha Thi Hoang. Schmal, aber mit kräftigen Armen. Der Regen tropft vom Wellblechdach. Seit Morgengrauen ist sie wach, sie sagt, sie sei nervös gewesen. Man hatte ihr erzählt, wie groß die Amerikaner seien. So viele von ihnen in ihrem kleinen Haus.
"Es fühlte sich an, als würde etwas, an dem ich festhielt, weggespült."
Craige Edgerton
Foto: Linh Pham / DER SPIEGEL
An der Außenwand kleben die Aufkleber zweier koreanischer Hilfsorganisationen, aber keiner amerikanischen. Ha Thi Hoang hofft, dass sich das ändert. Deswegen hat sie die Veteranen eingeladen.
Ihr Sohn leide an den "Folgen von Agent Orange in der dritten Generation", erklärt sie den Männern und Frauen, die im nassen Hof stehen. "Ich bekomme eine staatliche Stütze, aber die reicht nicht einmal für seine Windeln." Ihr Sohn ist 29, er kann nicht sprechen.
Edgerton notiert ihre Worte. Durch die offene Tür erspäht er ein Regal mit einem Zeugnis der elften Klasse, ein Foto eines Mädchens. Er schreibt in sein Büchlein, was Ha Thi Hoang nun sagt: "Meine Tochter ist unsere einzige Hoffnung."
Edgerton zieht seine Sandalen aus und geht ins Haus. Der junge Mann liegt im Bett, ein Ventilator bewegt sein Haar. Edgerton greift seine Hand - und dann passiert es.
Er flieht nach draußen, setzt sich auf die Mauer.
Später hockt er zusammengesunken im Bus. Allein. Die anderen besuchen einen Friedhof für gefallene vietnamesische Soldaten. "Als ich dem jungen Mann in die Augen sah", sagt er, "explodierte diese Szene in meinem Kopf." Lichter am Himmel, der Bunker, der Staub in der Luft - plötzlich sei alles wieder da gewesen. "Es fühlte sich an, als würde etwas, an dem ich festhielt, weggespült."
Etwas Reinigendes?
Er überlegt eine Weile. "Verzeihend." Er hält inne. "Ich weiß, dass es seltsam klingt." Es sei wie eine energetische Entladung gewesen. Es habe popp, popp gemacht, und dann: "Eine weitere Ebene dieser Wut, die sich löste. Vielleicht die Vergebung, nach der ich gesucht habe. So etwas habe ich noch nie erlebt."
Was in diesem Moment mit Edgerton passiert - oder was er glaubt, das passiert -, wirkt märchenhaft, fast kitschig: der große Wendepunkt am Ende, und plötzlich ist alles gut. Er begreift das selbst: "Ich sage immer, dass ich keine Erwartungen an diese Reise hatte. Doch das stimmt nicht. Ich wollte etwas finden. Ich suchte Erlösung."
Hier könnte die Geschichte enden. Doch dann kommt es noch dicker.
Am Nachmittag quält sich der Bus durch die Hügel. Edgerton und die anderen haben gerade einen stillgelegten US-Luftwaffenstützpunkt besucht. Es sind die letzten Stunden an seinem alten Einsatzort.
Plötzlich ruft Edgerton: "Anhalten!" Er springt auf, eilt zum Fenster. Draußen ist nur Dschungel zu sehen. Doch ein Hügel, der größte von allen, wirkt seltsam. Seine Form stimmt nicht. Oben platt wie ein Vulkan.
"Das ist Fuller", ruft Edgerton. "Meine Feuerbasis. Hier war ich." Einer der fünf Hügel, auf dem er Monate seines Lebens verbracht hatte. Von dem aus er ein Land beschoss, über das er nichts wusste und nichts wissen wollte.
Ein halbes Jahrhundert später ist der Hügel noch immer da. Grün und überwuchert. Die Natur hat ihn sich zurückgeholt.
Edgerton wischt sich die Tränen weg. "Wir können weiterfahren."