Ein Gastbeitrag von Julia Reuschenbach
Dr. Julia Reuschenbach, Politikwissenschaftlerin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Parteien, Wahlen und politische Kommunikation. Zuletzt erschien von ihr zusammen mit Korbinian Frenzel: "Defekte Debatten. Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen".
23.02.2025, 09.18 Uhr
Foto: Kay Nietfeld / picture alliance / dpa
Er sagte im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz, dass in Deutschland der Wille von Wählerinnen und Wählern missachtet werde. Der bestehe darin, dass die anderen Parteien mit der AfD zusammenarbeiten sollten.
Das ist nicht neu. Herangezogen wird der Wählerwille häufig dann, wenn es darum geht, demokratische Grenzen auszuloten. Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen im September 2024 fragte der WDR zum Beispiel, ob der Wählerwille ignoriert werde, wenn durch die anderen Parteien die Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen werde. Die Tageszeitung "Die Welt" schrieb schon im Juni 2024: "Brandmauer. Wie lange kann man den Wählerwillen ignorieren?". Die "Potsdamer Neuesten Nachrichten" präsentierten jüngst die Serie "Wählerwille", in der täglich ein Wähler oder eine Wählerin erklärt, was ihm oder ihr mit Blick auf die nahe Bundestagswahl besonders wichtig ist.
Dabei geht es in Sachen Wählerwille längst nicht mehr nur um Wahlergebnisse. Auch Personalfragen sind ein Terrain für den Wählerwillen. So titelte "Der Westen" im November 2024 "Es wird immer absurder - SPD-Spitze ignoriert Wählerwillen", nachdem sich die Sozialdemokraten gegen Boris Pistorius und für Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten entschieden hatten.
Glauben, zu wissen, was der Wähler will, gilt nicht nur für die politische Berichterstattung.
Auch Politikerinnen und Politiker haben schon immer den Versuch unternommen, Wahlergebnisse mit ihrer Deutung als einen "klaren Wählerauftrag" zu deklarieren oder sie als den eindeutigen Wählerwillen zu kennzeichnen.
Alice Weidel etwa betonte nach der Wahl in Thüringen 2024, dass dort ein Drittel der Wählerstimmen ignoriert werde und es gegen den Wählerwillen sei, wenn die AfD nicht an der Regierung beteiligt werde. Thorsten Frei, der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, schrieb Ende Januar 2025 auf der Website der Partei, die Politik müsse sich mit Blick auf die Migrationspolitik wieder am Wählerwillen ausrichten. Und Volker Wissing (FDP) durfte sich von eigenen Parteifreunden anhören, dass sein Verbleib in der Bundesregierung ein "Verrat an der Partei und am Wählerwillen" sei.
Es wäre zugegeben schön, wenn es so einfach wäre. Ein Blick auf das Wahlergebnis und zack, zeigt er sich: der Wählerwille. Ein Blick auf eine aktuelle Umfrage und zack, sind politische oder personelle Entscheidungen getroffen.
Aber die Wahrheit ist: Den Wählerwillen gibt es nicht. Vielmehr handelt es sich um eine hoch individualisierte Präferenz jeder einzelnen Person. Jede Wählerin und jeder Wähler hat einen individuellen Wählerwillen, der in der Stimmabgabe bei der Wahl sichtbar wird. So die Person überhaupt wählen geht und damit nicht nur in der Gruppe der Wahlberechtigten verbleibt. Jedes ausgezählte, berechnete Ergebnis aber ist dann schon die aggregierte Summe dieser Stimmen und kein Abbild individueller Präferenzen mehr.
Umso mehr müssen diese Ergebnisse interpretiert werden. Einige Beispiele: Wollen denn wirklich alle, die der AfD ihre Stimme geben, tatsächlich, dass die Partei regiert? Nein. Das zeigen etwa die Daten von Infratest dimap zu den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen. 56 Prozent der befragten AfD-Wählerinnen und -Wähler stuften eine Regierungsbeteiligung der AfD als nicht gut ein, gegenüber 40 und 41 Prozent, die dies für gut befanden.
Die Äußerungen von Alice Weidel verkennen zwei wichtige Faktoren: Einmal, dass eine Wahlentscheidung für die AfD nicht zwingend auch mit dem Wunsch nach einer Regierungsbeteiligung der Partei einhergehen muss - von den Wünschen der anderen Wählerinnen und Wähler, die es für den Wählerwillen ja bräuchte, ganz zu schweigen. Und dann, dass Parteien, die in der Opposition eines Parlaments arbeiten müssen, keineswegs ignoriert werden. Die Thüringer AfD-Fraktion ist das beste Beispiel dafür. Ausgestattet mit einer Sperrminorität gegenüber verfassungsändernden Mehrheiten, hat sie mitsamt der parlamentarisch ohnehin vorgesehenen Oppositionsrechte eine äußerst wirkmächtige Rolle im Erfurter Landtag.
Ein anderes Beispiel: Wollten alle, die bei der Bundestagswahl 2017 die Union, die FDP oder die Grünen wählten, eine sogenannte Jamaika-Regierungskoalition? Nein. Untersuchungen der Koalitionspräferenzen zeigen: Wäre es nach dieser Logik gegangen, hätte die Mehrheit aller (!) Wählerinnen und Wähler eine Große Koalition bevorzugt. Just jenes Bündnis, das nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen dann Monate später doch noch entstand, aber vor allem von der SPD gar nicht gewollt wurde.
Wählerinnen und Wähler sind ambivalente Wesen. Und der Wählerwille ist nicht zu verwechseln mit dem Willen der eigenen Anhängerschaft.
Bei der anstehenden Wahl am 23. Februar 2025 entscheiden Wählerinnen und Wähler über die Zusammensetzung des Bundestages. Sie entscheiden nicht über eine Person, nicht über einzelne Mitglieder des Kabinetts, nicht über eine künftige Koalition.
Vielmehr geben sie den Parteien die Aufgabe, das Wahlergebnis klug und reflektiert zu interpretieren und daraus den Prozess einer Regierungsbildung zu initiieren. Wer regieren will, muss dafür Mehrheiten mit anderen finden.
Das haben Parteien unterschiedlichster Couleur schon erleben müssen. 1969 etwa die CDU, die bei der Bundestagswahl mit 46,1 Prozent der Stimmen stärkste Kraft wurde und sich am Ende in der Opposition einer Koalition aus SPD und FDP gegenübersah. Oder die SPD, die 2001 das Rathaus in Hamburg räumen musste, obwohl sie bei der Wahl mit Abstand die meisten Stimmen geholt hatte.
Es ist bedauerlich, dass die politische Argumentationsfigur des "Wählerwillens" im Grunde eine rückständige Interpretation der Gesellschaft präsentiert. Sie zeugt von einer Sehnsucht nach Eindeutigkeit, Klarheit und Gleichförmigkeit. Und sie verkennt nicht selten die Logiken des Mehrheitsprinzips, also eines essenziellen Bestandteils des Demokratieprinzips der staatlichen Ordnung.
Zudem basieren solche Argumentationen häufig auf einzelnen Umfragen, deren Kontext nicht berücksichtigt wird und die ohne vergleichende Daten aus längerfristigen Zeiträumen erhoben werden. Letztere hingegen würden eben jene Einsichten mit Blick auf Themen und Stimmungen in der Bevölkerung bieten, die eine differenzierte Betrachtung von Wählerinnen und Wählern ermöglichen würden.
Der Rückgriff auf den Wählerwillen beinhaltet daneben ein veritables Gefahrenpotenzial. Die Argumentation ist eine Gratwanderung zwischen dem demokratischen Repräsentationsprinzip, also dem Anspruch, Stimmungen und Positionen von Wählerinnen und Wählern ernst- und wahrzunehmen auf der einen Seite. Und den populistischen Erzählungen von einer angeblich schweigenden Mehrheit - "dem Volk", welches durch korrupte Eliten gegängelt und schlecht behandelt werde, auf der anderen.
Es wäre eine große Leistung, wenn es den anderen Parteien gelänge, diese "folgenreichste Vereinfachung" klar zu bestimmen und eindeutig zu repräsentieren. Denn der Populismus wird durch den Rückgriff auf den "Wählerwillen" immer weiter befeuert.
Stattdessen sollte es darum gehen, die Wählerinnen und Wähler in ihren Ambivalenzen, die Gesellschaft in ihrer Individualität und Heterogenität zu betrachten und daraus den Ansporn zu entwickeln, eine Politik zu machen, die jeden Tag aufs Neue bestmöglich auf Interessenausgleich zielt und sich nicht durch situative Umfragen und Empörungswellen treiben lässt.
Gelänge dies, gelänge womöglich auch noch etwas ganz anderes: Ohne den Rückgriff auf den "Wählerwillen" würden nämlich auch all jene Sichtbarkeit und Berücksichtigung erfahren, die in Deutschland aus welchen Gründen auch immer nicht wählen dürfen, aber hier leben, arbeiten oder engagiert sind.
Und nein, das sind übrigens nicht immer nur Menschen mit Migrationsgeschichte, sondern zum Beispiel auch Kinder, Jugendliche oder Menschen, die unter gesetzlicher Betreuung stehen.