Wirtschaftsboom Von dieser Mentalität der Polen können die Deutschen viel lernen

Von Philipp Fritz
Korrespondent in Warschau

Seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.

Stand: 30.07.2025 Lesedauer: 5 Minuten

Polen könnte noch in diesem Jahr auf Platz 20 der größten Volkswirtschaften aufsteigen - und die Schweiz überholen. Seit den 90er-Jahren ist kein anderes Land schneller zu Wohlstand gekommen. Dahinter steht eine Dynamik, die in Deutschland ihresgleichen sucht.

Hochhäuser in der Innenstadt von Warschau
Quelle: Markus Mainka/picture alliance

Eigentlich wollte Donald Tusk lediglich seine neuen Minister vorstellen. Der polnische Premierminister hatte eine Regierungsumbildung angekündigt, nachdem der Kandidat seiner Partei, Rafal Trzaskowski, in einer Stichwahl um das Amt des Präsidenten am 1. Juni gegen den Kandidaten der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Karol Nawrocki, verloren hatte.

Bei der Bekanntmachung der neuen Regierungsmannschaft in der vergangenen Woche sagte Tusk aber etwas, das den Anlass der Pressekonferenz in den Hintergrund treten ließ. Noch 2025 werde Polen zur Nummer 20 der größten Volkswirtschaften der Welt aufsteigen und die Schweiz von jenem Rang verdrängen. Wenig später wiederholte Wirtschafts- und Finanzminister Andrzej Domanski die Prognose und erklärte kurz und knapp: "In den vergangenen 35 Jahren hat sich unsere Wirtschaft in einem fantastischen Tempo entwickelt."

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Polens Medien waren wie elektrisiert: Aussagen aus der Regierung, dass das Land wirtschaftlich zur Weltspitze aufschließe, eilen seit Tagen über Nachrichtenseiten. Dabei hatte der Internationale Währungsfonds (IWF), ausgehend von anhaltendem Wachstum, schon im vergangenen Jahr mit diesem Aufstieg Polens gerechnet. Die Zahl 20 ist von enormer symbolischer Bedeutung. Polen könnte absehbar in den elitären Club der G-20-Länder aufsteigen, der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Es wäre ein internationaler Prestigegewinn und ein für jedermann sichtbares Zeichen für Polens beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg.

Tatsächlich findet dieser nach wie vor oftmals nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient - gerade in Deutschland. Und das, obwohl Polen als Handelspartner von herausragender Bedeutung für die deutsche Wirtschaft ist.

Längste Wachstumsperiode eines europäischen Landes

In den 90er-Jahren, nach dem Ende des Staatssozialismus, schlitterte Polen ins Chaos. Die Menschen litten unter einer Hyperinflation, einer Arbeitslosenquote von teilweise mehr als 20 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung; die Wirtschaft schrumpfte. Mit der sogenannten Schocktherapie, einer radikalen Transformation hin zur Marktwirtschaft, erdacht vom damaligen Finanzminister und späteren Nationalbankchef Leszek Balcerowicz, schlug das Pendel mit Wucht in die andere Richtung und katapultierte Polen damit in eine bis heute anhaltende Boom-Phase.

Seit 1992 - mit einem kurzen Einbruch durch die Corona-Pandemie - wächst die polnische Wirtschaft unentwegt. Es ist die längste Wachstumsperiode eines europäischen Landes seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Akkumulation von Kapital und die Zunahme von Wohlstand sind beispiellos. Durchschnittlich hat das Bruttosozialprodukt in Polen pro Kopf laut IWF zwischen 1990 und 2023 um 240 Prozent zugelegt. Für diesen Zeitraum wird Polen weltweit nur von einem Land übertroffen: von Südkorea, mit einer Zunahme von 264 Prozent in 33 Jahren.

In Europa ist Polen der unangefochtene Wachstums-Champion und zunehmend ein Motor. Dass die Polen überdurchschnittlich viel arbeiten, hochproduktiv sind, das Ausbildungsniveau im Land exzellent ist, polnische Informatiker und Ingenieure das Wachstum treiben, sind längst nicht alle Gründe für Polens Triumph.

Wesentlich ist auch, dass kein anderes Land seit der EU-Osterweiterung 2004 derart hohe finanzielle Zuwendungen aus Brüssel erhalten hat. Das hat dazu beigetragen, dass das polnische Wirtschaftswunder durchaus mit den sogenannten Tigerstaaten in Asien zu vergleichen ist - es ist dessen Dynamik, die Wirtschaftswissenschaftler an Südkorea, Singapur oder Taiwan denken lässt.

Hinzu kommt eine Wachstumsmentalität, die sich stark vom westlichen Nachbarn Deutschland unterscheidet. Das Wort "gonic", zu Deutsch "jagen" oder "eilen", steht stellvertretend dafür. Gern geben Politiker Ziele wie das "Jagen" bestimmter Länder aus. Dabei geht es darum, hinsichtlich des Lohnniveaus, der Größe der Volkswirtschaft, des durchschnittlichen Haushaltsvermögens oder allgemein mit Blick auf Wohlstand bestimmte - zuvorderst europäische - Länder einzuholen.

Zuletzt hatte Polen Spanien hinter sich gelassen. Und im vergangenen Jahr hatte Donald Tusk den Menschen im Land "versprochen", dass Polen 2029, zum 25-jährigen Jubiläum der Mitgliedschaft des Landes in der EU, "reicher" sein werde als Großbritannien.

All diese Losungen und Debatten zeigen, dass Wachstum und Konsum in Polen grundsätzlich positiv konnotiert sind. Deutsche Debatten über "degrowth", also Wachstumskritik, oder "Flugscham" stehen in einem starken Kontrast dazu, so wie Deutschlands wirtschaftliche Probleme überhaupt.

Schwierige Lage für die Regierung Tusk

Dennoch müssen Deutschland und dessen Volkswirtschaft auch gegenüber Polen als "etabliert" verstanden werden. Deutschland ist immer noch die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und ein Mitglied der G-20-Gruppe. Ob Polen je eines wird, ist unklar.

Die Gründe dafür sind politischer Natur: Mit Deutschland, Frankreich, Italien und der EU selbst verfügen die EU-Staaten bereits über vier Sitze am Tisch der Großen 20. Dazu kommt Großbritannien. Mit Blick darauf, dass andere Weltregionen sich dynamischer entwickeln, besteht in der Gruppe ohnehin ein Ungleichgewicht zugunsten der Europäer. Selbst die Schweiz, die wegen der Größe ihrer Volkswirtschaft eigentlich zur G20 gehören müsste, ist nicht dabei. Dabei hätte das Land mit Verweis auf die Bedeutung als Finanzplatz ein zusätzliches Argument.

Gegen eine Aufnahme Polens in die G20 spricht politisch aktuell die Schwäche der Regierung Tusk. Nach der Wahl des EU-kritischen Nawrocki erwarten Beobachter eine äußerst schwierige Kohabitation zwischen Präsident und Regierung. Es wird davon ausgegangen, dass Nawrocki die Reformen Tusks mit seinem Veto regelmäßig blockieren und die Regierung weitgehend handlungsunfähig machen wird. Tusk wird dadurch vorerst auch international kaum Durchsetzungskraft haben.

Darüber hinaus dürfte auch Polens Wachstum nicht ewig anhalten. Deutschlands relative wirtschaftliche Schwäche - Deutschland ist Polens wichtigster Handelspartner -, die weiterhin ungelöste Justizkrise als mögliches Hemmnis für Investoren und eine negative demografische Entwicklung gefährden Warschaus Wachstumshoffnungen. Vorerst aber dürfte niemand in Europa Polen den Titel des Wachstums-Champions streitig machen.


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