Von Christine Keck
29.10.2025, 13.00 Uhr
Fotos: DARDAN / Youtube; ESKA / Youtube
"Da draußen herrscht Krieg. Haben immer noch die Strada unter Kontrolle."
Rapper Eska
Sie reden über den Mercedes, der lautstark beschleunigt und auf einen Mann mitten auf der Straße zugehalten habe. Über den dumpfen Schlag, als das Auto gegen den Mann prallte und ihn in die Luft schleuderte, meterhoch über die Motorhaube, bis er bewegungslos auf dem Asphalt liegen blieb.
Foto: Ilkay Karakurt / DER SPIEGEL
Am Steuer saß der Angeklagte. So sieht es die Staatsanwaltschaft, so haben es die Kameras eines Teslas aufgezeichnet, dem der flüchtende Fahrer im Oktober 2023 begegnete. Der 26-Jährige, ein gebürtiger Niederländer, soll sein Opfer laut Anklagebehörde "bewusst und gewollt" mit hohem Tempo erfasst haben, um es zu töten.
Das schwer verletzte Opfer, damals 31 Jahre alt, ein Gastronom und Familienvater, weiß nichts von den Zeugenaussagen. Der Mann kann nicht dabei sein, als im Gericht auf einer Karte gezeigt wird, wo genau in Stuttgart-Vaihingen er angefahren wurde. Er liegt seit dem Angriff im Wachkoma, wird künstlich beatmet. Die Chancen, dass er jemals wieder aufwacht, stehen schlecht.
Es ist ein Bandenkrieg ausgebrochen, mitten in Baden-Württemberg, ausgerechnet in einem der sichersten Bundesländer Deutschlands. Seit mehr als drei Jahren bekämpfen sich zwei rivalisierende Gruppen in Stuttgart, Esslingen, Göppingen und Umgebung. In Städten, die zuvor nicht durch Ghettos oder Drogenexzesse aufgefallen waren, eher durch niedrige Arbeitslosigkeit und Wohlstand.
Die Polizei hat ein Video gesichert, aufgezeichnet am 25. November 2023. Es zeigt Dutzende Männer, die in Zweierreihen durch eine Einkaufsstraße in Stuttgart-Vaihingen marschieren. Sie sind schwarz gekleidet, teils vermummt und brüllen "Intikam", das türkische Wort für Rache. Es ist eine der wenigen Aufnahmen der Gruppe in der Öffentlichkeit.
Selbst vor dem Töten schrecken die Gangs nicht zurück. Die Attacke mit dem Mercedes zeugt davon, genauso wie ein Vorfall im Juni 2023: Als ein Bandenmitglied im württembergischen Altbach beerdigt wurde, schleuderte ein Mitglied der anderen Bande eine Handgranate auf die Trauergemeinde mit mehreren Hundert Gästen. Sie prallte an einem Ast ab, explodierte nicht direkt in der Menge. Mindestens 15 Menschen wurden verletzt, der Werfer wurde hinterher krankenhausreif geschlagen.
Von einer "neuen Qualität brutaler Gewalt" sprach damals der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) und kündigte an: "Wir werden das Phänomen im Keim ersticken."
Nur aufgehört hat die Gewalt bis heute nicht.
Es bekriegen sich Männer zwischen 18 und 30 Jahren, manche drunter, manche drüber. Viele haben Wurzeln in Syrien, Afghanistan, aber auch dem Westbalkan, Rumänien, Nigeria. Die Liste ihrer Taten ist zu lang, um alle aufzuzählen. Ständig muss die Polizei anrücken.
"Wir werden das Phänomen im Keim ersticken."
Thomas Strobl, Landesinnenminister
Eine kriminelle Parallelgesellschaft hat sich aufgetan. Sie bestimmt die Schlagzeilen, ist Stadtgespräch, macht den Menschen Angst. Die Gangs tragen ihren Streit weitgehend unter sich aus. Doch wo auf der Straße Schüsse fallen, Gebäude angezündet werden, sind auch Dritte in Lebensgefahr.
Einwohner, Politikerinnen und Ermittler fragen sich, wie es so weit kommen konnte, dass sich junge Männer derart attackieren, ohne erkennbaren Grund. Warum sie den Staat und seine Gesetze verachten. Die Suche nach Antworten führt in Gerichte, zu Bewährungshelfern, in ein Jugendhaus und zu jenem Mann, bei dem alle Ermittlungsfäden zusammenlaufen.
Andreas Stenger, 62 Jahre alt, Chef des baden-württembergischen Landeskriminalamts, sitzt im vierten Stock eines monströsen Betongebäudes im Stuttgarter Stadtbezirk Bad Cannstatt und nimmt einen Schluck Pfefferminztee. Wo anfangen?
Die Lage ist unübersichtlich. So wie das Organigramm mit der Überschrift "Gruppenstrukturen", auf dem Stenger und seine Kollegen viele Linien und noch mehr kleine Köpfe eingezeichnet haben. Verwirrend sieht es aus, und verwirrend ist es auch. Lange haben sie sich schwergetan, aufzudröseln, wer überhaupt gegen wen in den Krieg gezogen ist.
Kein Etikett passte so recht. Mit "klassischer organisierter Kriminalität" habe das alles nichts zu tun, sagt Stenger, auch nicht mit Clanstrukturen, wie man sie aus Berlin oder Nordrhein-Westfalen kenne. "Hier tragen multiethnische Gruppen ihren Kampf um Ehre auf offener Straße aus", sagt der LKA-Chef. "Da geht es um toxische Männlichkeit, Imponiergehabe und Gewaltverherrlichung", so banal das klinge.
Die Taskforce führt eine Liste von Verdächtigen, mehr als 500 Namen stehen darauf, viele weitere gehören zum Umfeld der Gruppen. Unter ihnen seien "überproportional viele Kurden", sagt Stenger, eine Migrationsgeschichte hätten die meisten. Eine "erstaunliche Mischung" sei das, vom "Gelegenheitsgauner" bis zu jenen, die "dick im kriminellen Geschäft" seien, von Callcenterbetrügern bis zu Waffenhändlern, vom Kleinstgewerbetreibenden bis zum Kokaindealer.
"Für sie ist Kriminalität ein Lebensentwurf."
Andreas Stenger, Chef des Landeskriminalamts
Der Kitt der Banden, davon gehen die Ermittler aus, ist ihr jeweiliger Wohnort, ihre Hood. Sie sind zusammen aufgewachsen, in die gleichen Shishabars gegangen, gemeinsam durch die Nächte gezogen. Ihre Hierarchien sind flach, es vermischen sich Freundeskreise. Viele haben das Sagen, keiner hat allein die Macht. Gruppe A und Gruppe B heißen sie nüchtern im Polizeijargon. Die einen kommen aus Göppingen und Stuttgart-Zuffenhausen, die anderen aus Ludwigsburg und Esslingen. "Für sie ist Kriminalität ein Lebensentwurf", sagt LKA-Chef Stenger, "crime as a lifestyle" nennt er es.
Ihre Vorbilder finden die Bandenmitglieder in der regionalen Musikszene. Die einen bei Dardan Mushkolaj, 28, durchaus erfolgreich als Rapper. Dardan, wie er sich nennt, war Coach in einer ProSieben-Castingshow, geht bald wieder auf Tour. "Ich hatte keine Aussicht auf irgendwas", sagt er in einem TikTok-Video über seine Jugend in Stuttgart-Zuffenhausen. Einfach seien die Verhältnisse gewesen, in denen er groß geworden sei, seine Eltern seien in den Neunzigern aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen. Es ist die Geschichte eines Aufsteigers, der sich selbstverliebt mit getönter Sonnenbrille und Zigarre in der Hand inszeniert.
"Schieß' scharf wie Paparazzi. Aus dem Maserati."
"Wenn es knallt, gar kein Problem. Gratis Blei für dein System."
Rapper Dardan
Dardans Songs klingen wie eine Anleitung zum Gangster-Sein, Soundtracks, die Gewalt verherrlichen. Was zählt, sind Waffen, PS-starke Autos und Machoallüren. Mehr als eine Million Menschen folgen ihm auf Instagram.
Foto: ESKA / Youtube
Sein Gegenspieler ist Eska, aufgewachsen in Esslingen, das Idol der dortigen Gang und längst nicht so bekannt wie Dardan. Um seinen bürgerlichen Namen macht er ein Geheimnis, er scheint Wurzeln in der Türkei zu haben. Knapp vier Jahre sei er im Knast gewesen, erzählt er auf YouTube. In einem TikTok-Video zeigt er sich mit tätowiertem Oberkörper am Strand und freut sich, dass die Bewährung vorbei, die Abschiebung "vom Tisch" sei. Auf Instagram hat er etwas weniger als 30.000 Follower.
Gesetze zu brechen, lässt Eska erstrebenswert erscheinen. Im Bandenmilieu wird zu ihm und seinen kruden Botschaften aufgeschaut. Er rappt über Verräter, auf die Jagd gemacht werden soll, über seine Verachtung gegenüber der Justiz, der Polizei. Seine Texte drehen sich um Revierkonflikte und Machtkämpfe, um Ehre und Vergeltung. In einem Clip posen verurteilte Kriminelle.
"An alle meine Feinde, wenn ihr ficken wollt. Strapaziert mal nicht meine Nerven, wir vernichten euch."
Rapper Eska
Verletzte Ehre soll auch den Bandenkrieg ausgelöst haben. Rapper Eska, so geht das Gerücht, wurde im Gefängnis erniedrigt und dabei gefilmt. Angeblich hat ihn jemand mit einer Waffe bedroht.
LKA Baden-Württemberg
Ob das stimmt? Die Ermittler können nichts bestätigen. Sie wissen vieles schlicht nicht. Die Aussagebereitschaft der Gangmitglieder gehe gegen null, sagt LKA-Chef Stenger, das "große Schweigen" ziehe sich quer durch die Gruppierungen. In einem Videoclip von Rapper Eska stülpt ein Mann in Großaufnahme seine Unterlippe nach außen: "Omerta" bedeutet Schweigen und ist in Großbuchstaben darauf tätowiert. Das Gebot der italienischen Mafia gilt offenbar auch im Schwäbischen.
Anfragen des SPIEGEL ans Management der beiden Rapper bleiben unbeantwortet. Vergebens sind auch die Versuche über Anwälte, die Straffälligenhilfe, Sozialarbeiter oder andere Kanäle mit Gangmitgliedern oder deren Unterstützern Kontakt aufzunehmen.
Den Kampf gegen die Banden führt eine Sondereinheit im baden-württembergischen LKA. Es ist die größte, die es dort jemals gab. Rund 100 Ermittler, darunter Forensiker, IT-Spezialisten und Kriminaltechniker, sind seit drei Jahren auf die Gangs angesetzt. In Zahlen liest sich das so: knapp 330 Durchsuchungen, mehr als 270 beschlagnahmte Waffen, 92 Verhaftungen und insgesamt 137 Jahre Haft, zu denen die Täter vor Gericht verurteilt wurden. Sie sitzen wegen Raub oder Drogenhandel, wegen illegalem Waffenbesitz oder versuchtem Totschlag.
Es sind Erfolge, die sich vorzeigen lassen können. Manchmal ist es monatelang ruhig auf den Straßen, die Gangs sind vorsichtiger geworden. Das heißt aber nicht, dass sich die Strukturen auflösen, im Gegenteil. Die Täter, so heißt es in Polizeikreisen, werden eher jünger, selbst Minderjährige begehen schwere Straftaten.
Am Landgericht Stuttgart hat vor wenigen Wochen ein neuer Prozess begonnen. Im Oktober 2024 soll ein damals 17-jähriger Syrer 15 Schüsse aus einer Maschinenpistole auf drei Männer in einer Bar in Göppingen gefeuert haben. Zwei wurden schwer verletzt, einer starb. Es war der erste Tote im Bandenkrieg. Das Vorgehen des Schützen ähnelte einer Hinrichtung und war doch offenbar schlecht vorbereitet. Er traf die Falschen - oder wie die Staatsanwaltschaft sagt: "Zufallsopfer".
"Du musst sie aufbauen, ihnen Hoffnung geben."
Matthias Kälber, Werkstattleiter bei Restart
Einer der wenigen, der den Gangsternachwuchs kennt und auch darüber spricht, ist Matthias Kälber. Der 54-Jährige trägt Jeans, schwarze Wollmütze auch im Sommer und hat eine Jugend als Punkrocker hinter sich, in der er sich "gekloppt" und "viel Mist" gebaut habe, wie er sagt. Zwischen Schweißgerät und Kreissäge empfängt er Besuch. Kälber ist Werkstattleiter bei Restart, einem Projekt des Kreisjugendrings Esslingen für junge Straffällige. Wer vom Gericht verordnete Sozialstunden ableisten muss und Glück hat, landet bei ihm.
Seine Werkstatt ist an ein Jugendhaus angedockt, auch Bandenkids gehen dort ein und aus. Manche hätten mehrere Vorstrafen, erzählt Kälber, viele seien schon am Hauptschulabschluss gescheitert, kämen aus schwierigen Elternhäusern. "Nach dem Abgechecke am Anfang kommst du irgendwann ins Reden." Er sei parteiisch, sagt Kälber: im Zweifel immer auf der Seite der Jugendlichen. "Du musst sie aufbauen, ihnen Hoffnung geben."
Er sagt aber auch, dass er die Brutalität seiner Schützlinge ausblende, dass er mitunter mit seiner Arbeit hadere, weil ihm die Schicksale der Opfer so nahegingen.
Foto: DARDAN / Youtube
Die Feinde der Jugendlichen seien die Mitglieder der anderen Bande. Ihr Gegner sei aber auch das Rechtssystem. "Für die ist es cool, wenn du gesessen hast", sagt Kälber. Untersuchungshaft in Stuttgart-Stammheim gilt als Prädikat. Es ist ein Gefängnis, das Geschichte schrieb, führende RAF-Terroristen waren dort inhaftiert. Dabei hätten die Jugendlichen kaum Vorstellungen davon, was es bedeutet, eingesperrt zu sein, sagt Kälber. Er lädt deshalb Ex-Häftlinge ein, die von ihren Knasterfahrungen erzählen. Sie reden über die Schlafstörungen, die Freunde, die einmal vorbeischauen und dann nie wieder, die Einsamkeit hinter Gittern.
Ob das alles etwas bringt?
Mit einem der Jugendlichen hat Kälber ein Eisenregal geschweißt, es ist fast fertig und lehnt an einer Wand der Werkstatt. "Eigentlich ein cleverer Bursche", auffällig mit seiner Goldkette und den durchtrainierten Oberarmen. Fast ein Jahr lang sei er einmal pro Woche da gewesen. Anfangs ließ er viele Termine sausen, keine fünf Minuten konnte er sich in den ersten Monaten konzentrieren, wegen Kleinigkeiten geriet er in Konflikte mit anderen, war dauergereizt, so erzählt es Kälber. Geändert habe sich das, als er mit dem Schweißen begann. Er sei stolz gewesen auf die Stange für Klimmzüge, die er mit nach Hause nehmen durfte. In jenen Monaten holte er den Hauptschulabschluss nach, bewarb sich mit Kälbers Hilfe auf eine Lehrstelle, er will jetzt Industriemechaniker werden.
Kälber fährt mit dem Zeigefinger über die Schweißnähte des Regals, sie sind glatt geschliffen. "Gute Arbeit", sagt er, und ein bisschen klingt es, als lobe er sich selbst.
"Ich rippe dein Geld, dein Benz, deine Bitch. Deine Welt ist gefickt, ja, wir helfen dir nicht."
Rapper Dardan
Um herauszufinden, was junge Männer zu kriminellen Gangmitgliedern macht und wie man die Gewalt stoppen kann, sind die Stuttgarter Ermittler bis nach Schweden gereist. In das Land mit der dritthöchsten Mord- und Totschlagsrate durch Schusswaffen in Europa, nach Albanien und Bosnien-Herzegowina. Viel wurde berichtet über Bombenattacken, Kinder, die für Kopfgeld schießen, von verfeindeten Gangs, die um Territorien für ihren Drogenhandel konkurrieren. "Schwedische Verhältnisse gibt es im Schwäbischen Gott sei Dank nicht", sagt LKA-Chef Stenger.
Und doch habe er eines gelernt bei den Kollegen: "Wehret den Anfängen."
Das ist ein guter Vorsatz. Nur spricht einiges dafür, dass die Bandenfehde kein gänzlich neues Phänomen ist. Sie könnte aus einem älteren Konflikt in der Region hervorgegangen sein, den Streitereien zwischen zwei rockerähnlichen Gruppierungen: der kurdisch beherrschten Red Legion, die inzwischen verboten ist, und den türkisch dominierten Black Jackets.
Alexander Ujma sitzt in seinem Stuttgarter Büro an jenem runden Besprechungstisch, an dem schon viele Kriminelle Platz genommen haben. "Manche erkenne ich in den Videos der Rapper wieder", sagt er. Sie seien "superstolz" darauf, in den Clips die Staffage zu sein.
Mehr als die Hälfte seines Lebens betreut der 56-Jährige bei der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg Straffällige. Was die Bandenfehde anbelangt, ist er sich sicher: "Das begann nicht auf Knopfdruck vor drei Jahren, das hat sich schon länger angebahnt." Mitunter die gleichen Leute, die in den 2010er-Jahren bei den rockerähnlichen Gruppen waren, seien jetzt auch in den Gangs unterwegs. Wenige Ältere mischten sich mit dem Nachwuchs, der schnell lerne. Ujma hat Rapvideos gesehen, in denen die Männer rote Halstücher tragen. Die seien eine Anspielung auf die Red Legion.
"Die wissen schon, in welchen Bau sie wollen, auf welches Stockwerk."
Alexander Ujma, Bewährungshelfer
Ging es im Rockermilieu ums große Geschäft, um Menschenschmuggel, Prostitution, Waffen- und Drogenhandel, interessiert das die Gangs nur am Rande. Sie scheinen Bestätigung und Bedeutung zu finden in der Kriminalität, der Brutalität. "Den meisten geht es um Zugehörigkeit, das Kollektiv steht über allem", sagt Ujma. Da werde auch in Kauf genommen, für andere ins Gefängnis zu gehen. Denn wer rede, gelte als Verräter. Selbst im Knast werde der Streit fortgesetzt. "Die wissen schon, in welchen Bau sie wollen, auf welches Stockwerk", sagt Ujma. Wehe, die Justiz legt die Falschen zusammen, dann kann es krachen im Vollzug.
Auf Ujmas Tisch steht ein Becher mit Bonbons: Sahnecreme und Eukalyptus. Seine Klienten griffen gern zu, erzählt er. Etliche hätten eine bürgerliche Vorstellung von der Zukunft: "Familie, Wohnung, Abende auf dem Sofa". Aber "keinerlei Schuldbewusstsein", wenn sie anderen mit ihren Taten die Zukunft nehmen.
Auch Ujma kann nur mutmaßen, warum die Männer gerade jetzt aufeinander losgehen. Der Blick ins Innerste der Banden bleibt verstellt. So geht es allen, den Helfern, der Polizei, den Journalisten. Selbst Aussteiger schweigen aus Angst vor Rache.
Am Stuttgarter Landgericht zieht sich der Prozess um den überfahrenen Gastronomen über Monate hin. Im Zuschauerbereich sitzt regelmäßig die Mutter des Schwerverletzten, immer umgeben von Verwandten. Sie ist eine resolute Frau, die ihre Wut lange hinunterschluckt und sie dann doch herausschreit. "Mörder!", ruft sie dem Angeklagten an einem der Verhandlungstage zu. Sie tobt und brüllt und wird hinausgeworfen aus dem Gerichtssaal. "Alles nur wegen eines Videos, auf dem man sowieso nichts sieht", sagt sie und schimpft im Flur weiter.
Es sei um Vergeltung gegangen, sagt der Anwalt der Familie. Eine Messerstecherei vor seinem Lokal in Stuttgart-Vaihingen sei dem Mann zum Verhängnis geworden. Der Kurde, der nach Ansicht des Gerichts früher der Red Legion angehörte, habe der Polizei ein Überwachungsvideo gezeigt, das bei der Aufklärung half. Dafür habe ihn die gegnerische Gruppierung büßen lassen, vermutet der Anwalt.
Mitte September, Sitzungssaal 1, rund ein Dutzend Beamte sichern den Raum. Mit gefalteten Händen nimmt der Angeklagte das Urteil entgegen: Neun Jahre und sechs Monate muss er wegen versuchten Totschlags in Haft. Es ist ein weiteres Urteil im Bandenkrieg, dessen abschreckende Wirkung überschaubar bleiben dürfte. Ein Ende der Revierkämpfe auf den Straßen ist nicht in Sicht.
Aus der zeitlich begrenzten Ermittlergruppe beim Landeskriminalamt ist Anfang Oktober ein dauerhafter Arbeitsbereich geworden. Die Gewalt, so sieht es auch die Polizei, wird weitergehen.