FOCUS-online-Chefreporter Göran Schattauer
Sonntag, 11.08.2024, 07:04
Männer, überall Männer: Immer, wenn in Deutschland von "Clan-Kriminalität" die Rede ist, tauchen die üblichen Verdächtigen auf: Arafat Abou-Chaker, Ibrahim Miri, Mahmoud Al Zein, Issa Remmo, dazu jede Menge Söhne, Brüder und Cousins der weit verzweigten türkischen und arabischen Großfamilien.
Man kennt sie als Verdächtige, oft auch als verurteilte Straftäter. Sie sitzen in Polizeiautos, Gerichtssälen und Gefängnissen. Manchmal zeigen sie Fotografen den Mittelfinger - und meinen den deutschen Staat.
Dass nur selten nie über die Mütter, Schwestern, Töchter und Cousinen der "Clan-Kriminellen" berichtet wird, mag vielen nicht ungewöhnlich vorkommen. Offenbar, so die landläufige Vorstellung, haben Frauen mit den dauerhaften und systematischen Rechtsbrüchen eben nichts zu tun.
Doch das ist ein gefährlicher Irrglaube, wie neueste Studienergebnisse des Migrationsforschers Mahmoud Jaraba belegen. Der promovierte Politikwissenschaftler an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg befasst sich seit Jahren mit "Clan-Kriminalität". Kürzlich veröffentlichte er eine Studie zur Rolle von Frauen in "Clans".
"Meine Ergebnisse zeigen, dass Frauen eine entscheidende, wenn auch oft verborgene Rolle in der 'Clan'-Dynamik und bei kriminellen Aktivitäten spielen, die von der Polizei häufig nicht erfasst werden", so Jaraba zu FOCUS online.
Mahmoud Jaraba betont, dass die Mehrheit der Frauen in diesen Gemeinschaften nicht kriminell ist und sogar unter den Gesetzesbrüchen der Männer leidet. "Einige werden allein aufgrund ihrer Familiennamen oder ihrer islamischen Zugehörigkeit bei der Jobsuche oder Ausbildung diskriminiert oder stigmatisiert."
Dennoch sei die Rolle der Frauen innerhalb der kriminellen Strukturen ein wichtiger Faktor. Zwar würden Frauen so gut wie nie Führungspositionen innehaben. "Doch sie prägen das Verhalten ihrer Kinder, ermutigen ihre Söhne aktiv zu kriminellen Handlungen oder geben kriminelle Rollen durch ihre Sozialisation weiter", so der Wissenschaftler. "Frauen können auch selbst in Straftaten wie Geldwäsche und Finanzbetrug verwickelt sein."
Dr. Mahmoud Jaraba, Migrationsforscher an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Bei seinen Untersuchungen konzentrierte sich Jaraba auf Frauen der al-Rashidiyya-Gemeinschaft mit Ursprung im türkischen Mardin nahe der Grenze zu Syrien und nicht weit von der zum Irak. In dem südostanatolischen Dorf gibt es mehr als ein Dutzend verwandtschaftliche Gruppen, darunter Remmo, al Zein, Omeirat und Miri, die immer wieder mit "Clan-Kriminalität" in Verbindung gebracht werden.
Die Gruppen hatten in der Türkei einen schweren Stand, weshalb viele Mitglieder zuerst in den Libanon oder nach Syrien gingen und schließlich in den 1980er Jahren nach Deutschland kamen.
Besonders die Frauen, die stark in patriarchale Familienstrukturen eingebunden waren, hatten es schwer: kaum Schulbildung, keine Entwicklungschancen, in Deutschland oft nur einen Duldungsstatus. Statt Bildung, Arbeit und Selbstverwirklichung standen für sie typischerweise eine frühe Heirat und die Kindererziehung im Vordergrund.
Entscheidungen trafen grundsätzlich die Männer. Sie waren die Bestimmer und Macher, auch was illegale Machenschaften angeht. Zahlreiche verwandtschaftliche Gruppen aus der al-Rashidiyya-Gemeinschaft schlugen kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland kriminelle Karrieren ein. Sie begingen Straftaten wie Diebstähle, Erpressung und Drogenhandel.
Je organisierter und professioneller die "Clan-Kriminalität" wurde, desto mehr wurden Frauen eingebunden, belegen Jarabas Untersuchungen. Sie nahmen die Rolle von "latenten Unterstützerinnen" ein.
Als Töchter, Schwestern oder Ehefrauen von Straftätern erhielten sie nicht nur Einblicke in die Funktionsweise des kriminellen Netzwerks. Hinter den Kulissen leisten sie bis heute wesentliche Unterstützung, indem sie "das kriminelle Ethos der Familie mitgestalten und die mit kriminellem Verhalten verbundenen Normen und Werte verstärken", so der Forscher Mahmoud Jaraba. "Sie sind mehr als nur Zuschauer."
Über mehrere Jahre beobachtete Jaraba ihr Leben in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Schließlich interviewte er 18 Frauen dieser Gemeinschaft.
Die meisten von ihnen waren in kriminelle Familien hineingeboren worden und wuchsen in solchen auf. Mehrere nahe Angehörige, darunter ihre Väter, Brüder und Cousins, waren aktive Straftäter. Die Verwandtschaftsgruppen halten an traditionellen kulturellen Werten und einer strikten Geschlechtertrennung fest.
Die von ihm geführten Gespräche zeigten jedoch, dass einige Frauen im Zusammenhang mit "Clan-Kriminalität" sehr bedeutsam sind - auch deshalb, weil sie von Polizei und Justiz kaum beachtet werden und damit "unter dem Radar" staatlicher Behörden fliegen.
Jaraba zufolge findet "Clan-Kriminalität" in einem kulturellen und sozialen Umfeld statt, "in dem traditionelle Geschlechterrollen und Machtdynamiken ein großes Gewicht haben". Familien- und Verwandtschaftsbande, Loyalität und kulturelle Erwartungen seien für die Beteiligung von Frauen an Straftaten "weitaus wichtiger als wirtschaftliche oder individuelle Motive".
In seinen Interviews fand Jaraba heraus, dass Frauen in einigen Fällen ihre Söhne "auch aktiv zur Kriminalität" ermutigen.
So erklärte ihm eine Frau namens Abber ( Name aus Sicherheitsgründen geändert, die Redaktion ), dass ihre Mutter das kriminelle Verhalten ihrer Brüder entscheidend beeinflusst und geformt hat. Sie habe nicht nur ein Auge zugedrückt, sondern war "eine treibende Kraft hinter dem Abstieg meiner Brüder in die Kriminalität", berichtete Abber.
"Als unser Cousin, der bereits tief im Drogengeschäft verstrickt war, meinen Brüdern vorschlug, sich ihm anzuschließen, war es meine Mutter, die diese Idee unterstützte", erzählte die junge Frau. "Sie akzeptierte es nicht nur, sondern argumentierte, dass dies für das Überleben unserer Familie in wirtschaftlich schwierigen Zeiten notwendig sei."
Das Verhalten der Mutter sei "kein Einzelfall", konstatiert der Politikwissenschaftler im Gespräch mit FOCUS online. "Frauen haben mir berichtet, dass sie Fälle kennen, in denen Mütter ihre Söhne aktiv zu kriminellem Verhalten ermutigten." Die Mütter spielten somit "eine entscheidende Rolle bei der Weitergabe kriminellen Verhaltens an ihre Söhne".
Kriminalität werde von ihnen "als Weg zu Macht, Respekt und wirtschaftlichem Erfolg" wahrgenommen. Außerdem würden Mütter darin ein Mittel für ihre Söhne sehen, um deren Dominanz zu behaupten, deren Männlichkeit zu bestätigen und deren sozialen Status innerhalb der Gemeinschaft zu verbessern.
In manchen Fällen "romantisieren sie die Kriminalität als eine Form des Widerstands gegen eine ungerechte oder unterdrückerische Gesellschaft, oder sie betrachten die Beteiligung an illegalen Aktivitäten als eine Möglichkeit, an finanzielle Ressourcen zu gelangen, die auf legalem Wege nur schwer zu erlangen sind", so der Forscher.
Über ähnliche Erfahrungen berichtete dem Forscher auch Amira ( Name aus Sicherheitsgründen geändert, die Redaktion ) aus Berlin, die aus einer bekannten kriminellen Familie stammte.
"Sie erzählte von Fällen, in denen die Frauen ihre Kinder in Gespräche über Loyalität, Ehre und den Ruf der Familie verwickelten", so Jaraba. Dabei hätten sie Geschichten erzählt, "die die Bedeutung der Wahrung einer einheitlichen Front, des Schutzes der eigenen Person und der Suche nach Vergeltung vermittelten".
Die Mütter seien der festen Überzeugung gewesen, "dass die Kinder des Clans', wenn sie diese Werte von klein auf verinnerlicht hätten, mit vollem Engagement für ihre kriminelle Abstammung aufwachsen würden".
Gerade Amiras Beispiel verdeutliche "die potenziell gefährliche Rolle der Frauen als Erzieherinnen in kriminellen Familien". Indem sie eine Kultur der Rache aufrechterhielten, trügen Frauen zu den seit Jahrzehnten andauernden "Zyklen von Blutrache und historischen Konflikten zwischen verschiedenen Verwandtschaftsgruppen bei".
Auf Deutsch: Frauen sind mitverantwortlich für die zum Teil blutigen Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Großfamilien, wie man sie in Berlin oder nordrhein-westfälischen Großstädten immer wieder erlebt.
Die Frauen würden ihren Kindern ein starkes Gefühl der Verpflichtung vermitteln, "die Ehre und den Ruf ihrer Familie zu verteidigen". Mahmoud Jaraba zufolge zeige sich daran der tiefgreifende Einfluss, den Frauen "auf die Prägung der Werte und Verhaltensmuster künftiger Generationen" im Zusammenhang mit "Clan-Kriminalität" haben.
Dass die männlichen Familienmitglieder bevorzugt werden, sei traditionell bedingt. In der Gemeinschaft würden Söhne häufig als "Träger des Familiennamens, als Erben von Eigentum und als zukünftige wirtschaftliche Leistungsträger" angesehen.
In mehreren Gesprächen mit "Clan-Frauen" fand der Forscher auch Anhaltspunkte dafür, dass Mütter häufig in die kriminellen Aktivitäten ihrer Partner hineingezogen werden - und ihnen helfen, beispielsweise bei der Geldwäsche. Einer der Gründe: Frauen erregen bei den Strafverfolgungsbehörden weniger Verdacht.
"Frauen tragen zur Verschleierung illegaler Gelder bei und helfen, diese in legitimere Finanzsysteme zu integrieren", so der Forscher gegenüber FOCUS online. Auf diese Weise könnten kriminelle Organisationen ihre illegalen Aktivitäten aufrechterhalten und ausweiten, "während sie sich der Aufdeckung und Kontrolle durch die Strafverfolgungsbehörden entziehen".
Bestes Beispiel: die Mutter von Abber. Demnach erkannten Abbers Brüder irgendwann das hohe Entdeckungsrisiko, das sie bei ihren Straftaten eingingen. Deshalb banden sie die Mutter in die Geldwäsche ein, indem sie mehrere Unternehmen auf deren Namen anmeldeten. "Mit dieser Taktik schuf die Familie eine Fassade der Legitimität für die illegalen Erlöse aus ihren kriminellen Aktivitäten."
Mahmoud Jaraba verweist zudem auf Schilderungen von "Clan-Frauen", die zugaben, auf ihre Namen Vermögenswerte anzuhäufen, darunter erhebliche Mengen an Gold. Finanziell gestärkt durch den "jahrelangem Bezug von Sozialleistungen" in Deutschland hätten kriminelle Banden "häufig in Immobilien im In- und Ausland investiert", etwa in der Türkei und im Libanon.
"Frauen können mit den Erträgen aus Straftaten Vermögenswerte wie Immobilien, Luxusgüter oder Schmuck erwerben", so Jaraba. Auf diese Weise würden sie "zu einem wichtigen Bestandteil des komplexen Netzwerks von Finanzgeschäften, das es der Familie ermöglicht, ihren Reichtum zu sichern und zu vergrößern und gleichzeitig dem Verdacht der Behörden zu entgehen".
Er habe auch von Fällen gehört, in denen "Clan-Frauen" ihren männlichen Familienmitgliedern aktiv geholfen haben, die von den Ermittlungsbehörden abgehört oder verfolgt wurden. So meldete eine Frau etliche Firmen auf ihren Namen an, schützte ihre Söhne und ihren Ehemann vor weiteren rechtlichen Konsequenzen und sorgte dafür, dass deren illegale Geschäfte weiterlaufen konnten.
Seine Forschungsergebnisse zeigten, "dass Frauen eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung des Familienzusammenhalts und der kriminellen Aktivitäten spielen, oft unter den Zwängen patriarchalischer Traditionen und Geschlechternormen", so Mahmoud Jaraba zu FOCUS online. Der Einfluss der Frauen sei "substanziell" und vielschichtig. "Sie stehen an der Schnittstelle zwischen Familie und Kriminalität und üben ihren Einfluss auf subtile, aber wirkungsvolle Weise aus".
Auf die relativ neuen Erkenntnisse müsse die Gesellschaft zwingend reagieren, fordert der "Clan"-Experte. "Wenn Frauen Alternativen zur Kriminalität angeboten werden, kann dies zu ihrer Autonomie und zu einer Abkehr von ihren vorbestimmten Rollen führen."
Es sei von entscheidender Bedeutung, dass staatliche Behörden und gesellschaftliche Institutionen ihren Umgang mit diesen Frauen überdenken - "nicht als Kriminelle oder bloße Nebenprodukte krimineller Milieus, sondern als zentrale Persönlichkeiten, die in der Lage sind, ihre Familien in eine positive Richtung zu lenken".
Man müsse den Frauen andere Wege aufzuzeigen, etwa Bildungs- und Bescha?ftigungsmo?glichkeiten sowie den Zugang zu Beratungs- und Betreuungsdiensten. "Diese gibt es bislang so gut wie gar nicht."
Mahmoud Jaraba weiter: "Wenn wir Frauen die Mittel an die Hand geben, ihre Rolle neu zu definieren, kann dies ein Katalysator sein, um kriminelle Muster zu durchbrechen."