Samstag, 28.06.2025, 07:00
Katharina Kausche/dpa
Die SPD lässt keine Zweifel daran, warum sie für drei Tage in Berlin zusammenkommt. "Das ist der Parteitag, auf dem aufgearbeitet wird", nämlich "ein katastrophales Wahlergebnis", erklärt der Vorsitzende Lars Klingbeil in seiner Rede am Freitag.
Für viele der 598 Delegierten haben die 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl wenigstens ein Gutes: Die über Jahre und Jahrzehnte hinweg angestauten Probleme der SPD lassen sich nicht mehr leugnen.
Ein Film zu Beginn des Parteitags setzt den Ton: "Wir haben zu oft geschwiegen, wo wir hätten laut sein müssen. Wir haben Kompromisse verteidigt, die wir nicht wollten", heißt es darin. Die Sozialdemokraten überbieten sich anschließend in ihren Reden darin, die Dramatik der Lage zu beschreiben.
Das ist leicht, eine echte Fehleranalyse hingegen schwer. Die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger erklärt, die SPD "sei schlicht nicht überzeugend genug gewesen", die logische Konsequenz daraus müsse sein, "dass wir besser werden müssen, dass wir stärker werden müssen". Manchen Delegierten lässt das ratlos zurück.
Konkrete Erklärungsansätze gibt es aber durchaus. Nur haben sie die führenden Sozialdemokraten scheinbar noch nicht verinnerlicht. Die Analysen stehen teilweise im Widerspruch zu den Parteitagsdebatten und zum aktuellen schwarz-roten Regierungshandeln. Ein Überblick.
Wenige Stunden vor dem Parteitag wurde ein zentrales Wahlversprechen der SPD abgeräumt: Der Mindestlohn steigt 2026 nicht auf 15 Euro, sondern nur auf 13,90 Euro. Auch 2027 wird er unter 15 Euro bleiben. Das sorgt doppelt für Enttäuschung.
Im Wahlkampf hatte die SPD-Führung mit ihren Forderungen suggeriert, die Festlegung des Mindestlohns sei eine politische Entscheidung. Das ist sie aber nicht - sie obliegt der unabhängigen Mindestlohnkommission. Nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen erklärte dann vor allem Lars Klingbeil, die Regierung werde ganz sicher dafür sorgen, dass der Mindestlohn auf 15 Euro steigt. Wähler, die diesen Reden zugehört haben, dürften sich getäuscht fühlen.
Neben den Wählern sind auch viele Sozialdemokraten enttäuscht. "Ich habe mit meinem Gesicht für diese Forderung gestanden", erklärt ein Delegierter, der bei der Bundestagswahl kandidiert hat, im Gespräch mit FOCUS online. Was nun passiert, sei "unsäglich". "Die Parteiführung darf sich jetzt nicht hinter der Ausrede verstecken, dass das eine unabhängige Entscheidung der Mindestlohnkommission war. Lars Klingbeil hat mit dem Mindestlohn für den Koalitionsvertrag geworben - wenn der aber scheinbar nichts zählt, ist er keine gute Arbeitsgrundlage."
Dass die Enttäuschung über den Mindestlohn kein Einzelfall ist, macht Gesine Schwan klar. Auf dem Parteitag erklärte die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission: Die Partei agiere zu oft nach dem Muster "Wahlversprechen gegen Stimme". Die Politikwissenschaftlerin hält das für problematisch: "Solche Tauschgeschäfte zerstören Vertrauen, weil sie eigentlich nie eingehalten werden können."
Schneiden Parteien schwach ab, sind Kommunikationsprobleme oft die erste Diagnose. Denn es ist einfach zu sagen: Wir haben alles gut gemacht, das ist nur nicht richtig bei den Wählern angekommen. Tatsächlich kritisieren einige Delegierte, dass die SPD sich zu schnell in diese Erzählung flüchte.
Allerdings wird auf dem Parteitag auch klar, dass die Partei tatsächlich ein Kommunikationsproblem hat. Besonders deutlich wird das in der Rede der neuen Vorsitzenden Bärbel Bas. Die Entscheidung der Mindestlohnkommission lobt sie ausdrücklich als "gut".
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Dass das dem SPD-Wahlprogramm und früheren Aussagen der Parteiführung widerspricht, dürften sowohl Wähler als auch Delegierte wissen. Entsprechend verhaltener Applaus folgt auf die Passage in Bas' Rede. Später greift der Juso-Vorsitzende Philipp Türmer das Problem auf: "Wir dürfen nicht mehr die kleinen Kompromisse feiern, als ob sie große Erfolge wären."
Bas offenbart aber auch ein zweites Kommunikationsproblem. Zwar sagt sie selbst: "Wenn die Leute uns vertrauen sollen, müssen sie uns verstehen. Wir müssen mehr Klartext sprechen." Eigentlich kann die Arbeitsministerin das auch - doch beim Mindestlohn wird ihre Sprache plötzlich technisch und verschleiernd. Bas erklärt die neue Lohnuntergrenze zur "größten sozialpartnerschaftlichen Lohnerhöhung seit Einführung des Mindestlohns".
Die SPD hat eine neue Parteiführung - und mit ihr alte und neue Probleme. Diese haben vor allem mit Klingbeil zu tun. Er hatte nach der Bundestagswahl alle Macht auf sich konzentriert, was ihm immer noch viele Genossen übel nehmen. Seine internen Beteuerungen, er sei doch eigentlich ein Teamplayer, nehmen ihm viele nicht ab. "Führung funktioniert so nicht", sagt ein Delegierter.
Weniger als zwei Drittel der Delegierten haben schließlich für die Wiederwahl Klingbeils zum Vorsitzenden gestimmt. In der Geschichte der SPD-Vorsitzenden gehört das zu den schlechtesten Ergebnissen. Selbst Kritiker Klingbeils sind über diese Klatsche überrascht und halten das Ergebnis für zu schlecht.
Zum Problem werden könnte noch, dass Bas mit 95 Prozent das volle Vertrauen der Delegierten als neue Vorsitzende genießt. Klingbeil muss aufpassen, dass er nicht weiter ins Abseits gerät, während ihr die Herzen zufliegen. Ein Ungleichgewicht im Führungsduo kann zu Problemen führen - das hat sich schon bei der Ex-Vorsitzenden Saskia Esken gezeigt.
Hinter vorgehaltener Hand sprechen manche davon, dass es für Klingbeil möglicherweise noch zum Problem werden könnte, dass die glücklos agierende Esken nun nicht mehr an seiner Seite steht. Bislang habe der Vorsitzende Esken bei vielem als Schutzschild vorschieben können. Mit einer beliebten Bas werde das nicht mehr funktionieren.
Des Weiteren blicken viele Delegierte mit Sorge darauf, dass nun beide Parteivorsitzende als Minister im Kabinett sitzen. So können sie nur schwer ein eigenes Profil unabhängig von der Regierung entwickeln. Diese Rolle könnte der neue Generalsekretär Tim Klüssendorf übernehmen. Doch ihn halten manche für - noch - zu schwach und unbekannt.
"Einigkeit", erklärt ein Delegierter, sei das oberste Ziel des Parteitags. Andere wollen zwar nicht ganz so weit gehen, betonen aber ebenfalls, dass bloß nicht zu viel Streit nach außen dringen soll. Möglicherweise sitzt ihnen noch in den Knochen, dass die Ampel auch wegen ihrer Streitigkeiten die SPD mit in den Abgrund gerissen hat.
Gleichzeitig kritisieren andere Delegierte eine "lethargische" Stimmung in der Partei. Zwar gäbe es teilweise sehr verschiedene Positionen in der SPD, auf offener Bühne würde das aber selten ausdiskutiert, man betreibe "Schattenboxen".
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Deutlich wird das auf dem Parteitag bei der Verteidigungspolitik. Das Friedensmanifest, unter anderem von Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich und Ralf Stegner unterzeichnet, ist zwar Gegenstand vieler Delegierten-Gespräche, doch die Mehrheit der Parteiprominenz umschifft es.
Stegner verteidigt seinen Aufschlag, Verteidigungsminister Boris Pistorius widerspricht ihm deutlich. Klingbeil erklärt zwar seine Haltung in der Russlandpolitik, doch das Manifest und dessen Unterzeichner erwähnt er mit keinem Wort. Bas und Klüssendorf sprechen das Thema gar nicht an. Auch die Manifest-Autoren sind nicht vollzählig angetreten: Mützenich bleibt dem Parteitag lieber fern.
Wieder ist es SPD-Urgestein Gesine Schwan, die mahnt: "Ich möchte dagegen plädieren, dass wir Geschlossenheit zum obersten Gebot der Partei machen." Es brauche zwar Geschlossenheit bei den sozialdemokratischen Grundwerten, nicht aber bei jeder einzelnen Frage.
Erst am Freitagmorgen hat der Bundestag die vorübergehende Aussetzung des Familiennachzugs beschlossen. Auf dem Parteitag ist davon wenig zu spüren. Die Migrationspolitik wird dort weitestgehend ausgespart. Eine Delegierte erklärt, die SPD habe sich das Thema schon im Wahlkampf "zu sehr aufdrücken lassen".
Dabei wäre eine Debatte dringend geboten. Asyl und Migration werden seit Monaten in Umfragen als eines der wichtigsten Themen genannt. "Die gesellschaftlichen Debatten müssen sich in den Debatten der Partei widerspiegeln, das gilt auch für die Migrationspolitik", fordert ein Juso.
Der Demoskop macht noch ein zweites Thema aus, das der Bevölkerung wichtig ist: die Inflation. Sie kommt zwar in den Reden der Vorsitzenden vor. Binkert erklärt aber: "Nur jeder dritte SPD-Wähler traut der Bundesregierung und damit auch dem SPD-Bundesvorsitzenden und Bundesfinanzminister Lars Klingbeil zu, die Inflation in den Griff zu bekommen."