Lehrerin berichtet Alltag in deutscher Grundschule: "Manche Kinder wissen nicht, was ein Stift ist"

Von Marie Rövekamp

Montag, 16.09.2024, 19:40

Ihre Schüler sitzen unterm Tisch, ziehen die Hose runter, können mit zehn Jahren nicht lesen: Eine Lehrerin erzählt von der Arbeit in einer deutschen Grundschule.

Inzwischen hat in allen Bundesländern das neue Schuljahr begonnen. Etwa 112.000 Kinder wurden deutschlandweit eingeschult, mit unterschiedlichsten familiären Biografien, Fähigkeiten - aber auch Einschränkungen. Was nicht spurlos an den Lehrkräften vorbeigeht: 36 Prozent fühlen sich laut dem Deutschen Schulbarometer mehrmals pro Woche "emotional erschöpft".

Hier berichtet eine Grundschullehrerin anonym, wie sie oft schon daran scheitert, dass alle Kinder auf ihrem Stuhl sitzen. Oder daran, dass Eltern die Unterrichtszeiten einhalten. Sie übt ihren Beruf seit 20 Jahren aus und arbeitet seit einigen Jahren an einer hessischen Schule, die sich in einem von Migration geprägten Stadtviertel befindet. Auf jegliche Personenangaben wird hier verzichtet, weil die Lehrerin nicht erkannt werden möchte. Sie sind der Redaktion aber bekannt.

Für viele Kinder beginnt gerade ihre Schulzeit. Sehen Sie schon jetzt Unterschiede zwischen ihnen, die schlimmstenfalls immer größer werden?
Ja. In Hessen ist es nicht Pflicht, dass Kinder in einen Kindergarten gehen. Deswegen kommt es vor, dass wir an den ersten Tagen sagen: "Hol bitte einen Bleistift" - und manche Kinder wissen nicht, was ein Bleistift ist. Sie wissen auch nicht, was andere Stifte sind. Sie haben noch nie eine Schere in der Hand gehabt.

Welche Unterrichtssituation der letzten Tage werden Sie nicht vergessen?
Ich habe am letzten Freitag mit einer ersten Klasse einen Papierrand ausgeschnitten. Montags darauf kam ein Vater zu mir und meinte, irgendjemand oder das Kind selber habe sich dabei die Haare geschnitten. Ich bekam es nicht mit, weil ich mich um zwei Kinder kümmern musste, die extrem auffällig und fordernd sind. Ich bin eigentlich froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist und nur Haare abgeschnitten wurden.

Inwiefern sind die beiden Kinder auffällig?
Das eine Kind fiel mir schon beim Kennenlernvormittag vor der Einschulung auf. Es versuchte, alle Kabel herauszuziehen, und hat als Krönung seine komplette Hose heruntergezogen und sich mit dem nackten Po auf den Stuhl gesetzt. Er erklärte, dass er einfach mal die Temperatur des Stuhls testen wollte. Das andere Kind hat keine Konzentrationsspanne und rennt die ganze Zeit herum.

Laut dem aktuellen Deutschen Schulbarometer nennen 35 Prozent der Lehrkräfte das Verhalten der Schülerinnen und Schüler als größte Herausforderung.
Wir haben bei den Erstklässlern jedes Jahr Kinder dabei, die ständig vor sich hinsummen, -brummen oder -singen. Nach einer Stunde bin ich allein wegen des Lärms schweißgebadet. Kinder setzen sich unter den Tisch oder stehen plötzlich auf und wollen gehen. Wenn ich eine simple Anforderung stelle wie "Malt eure Familie", kann zurückkommen: "Nee, mache ich nicht." Oder: "Da habe ich keine Lust zu." Oder: "Du bist nicht meine Mutter, du hast mir gar nichts zu sagen." Es ist manchmal sehr schwierig.

Sie sind Klassenlehrerin einer vierten Klasse. Laut dem Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen verfehlt fast jeder fünfte Viertklässler in Deutschland den Mindeststandard in Lesen und Mathematik. Bei der Rechtschreibung ist es jeder dritte. Wie können Schüler schon daran scheitern?
Mein Berufsbild hat sich in den vergangenen 20 Jahren komplett verändert. Ich weiß, Grundschullehrer haben einen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Mein Bildungsauftrag wird aber immer weniger, weil mein Erziehungsauftrag enorm viel Raum einnimmt. Was ich den Kindern beibringen muss: Ich habe all meine Sachen dabei, ich schlage nicht, ich trete nicht, ich beiße nicht, ich benehme mich irgendwie normal. Das ist natürlich wichtig, aber blockiert komplett den eigentlichen Unterricht.

Wie viele Ihrer Schüler können mit zehn Jahren nicht lesen?
Ich schätze, dass 40 Prozent meiner Viertklässlerinnen und Viertklässler vielleicht mechanisch vorlesen, aber sie verstehen nicht, was sie da lesen. Das liegt an ihrer kurzen Aufmerksamkeitsspanne oder an viel zu vielen Wörtern, die sie nicht kennen.

Oft komme ich ja nicht einmal über die Aufgabenbeschreibung hinaus: Ich erkläre zum Beispiel die grammatikalischen Begleiter und sage: "Nomen können männlich, weiblich, sächlich sein. Wir haben ja gerade den grünen Kasten gelesen, in dem steht, ‚der' ist männlich, ‚die' weiblich, ‚das' sächlich ..." Bevor ich weiterspreche, melden sich zwei Kinder und wissen nicht, was "männlich" bedeutet. So geht das jede Stunde.

Unter Kindern, die laut Vergleichstests in der Schule nicht zurechtkommen, haben besonders viele einen Migrationshintergrund.
Im Moment habe ich eine Klasse mit 22 Kindern - und alle haben multikulturelle Hintergründe. Manche können zwar gut Deutsch, aber zu Hause spricht jeder meiner Schüler eine andere Sprache. Wir legen Wert darauf, dass sie zumindest bei uns in der Schule nur Deutsch miteinander sprechen, was sie natürlich nicht immer tun, wenn sie unter sich sind. Die Hälfte meiner Klasse hat darüber hinaus ein weiteres Defizit.

Welche zum Beispiel?
Zwei Kinder werden inklusiv beschult, mit dem Förderstatus "Lernen". Sie haben andere Lernziele als die anderen und bekommen am Ende des Schuljahres ein anderes Zeugnis ohne Noten. Ich schreibe für sieben bis neun Kinder Förderpläne für verschiedene Auffälligkeiten. Sie haben Probleme bei der Konzentration, bei der Arbeitshaltung, beim Verhalten.

Ein Kind hat eine Teilhabeassistenz. Das Kind hat ADHS und eine Lese-Rechtschreib-Schwäche - und die Eltern haben sich darum gekümmert, dass ihr Kind jeden Tag von einer externen Fachperson im Unterricht unterstützt wird. Ansonsten kümmere ich mich um all diese Kinder alleine. Ich wünschte, ich könnte es zu zweit tun.

Sie arbeiten seit 20 Jahren als Lehrerin. War das immer so?
Wir besprechen uns viel im Kollegium und haben das Gefühl, dass es jedes Jahr schlimmer und anstrengender wird. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass wir auch älter werden. Andererseits ist es Fakt, dass ich noch nie so oft wie heute den Satz gesagt habe: "Ihr Kind braucht eine Therapie" - und damit meine ich nur Logopädie oder Ergotherapie. Die Kinder haben zum Beispiel einen extremen Sprachfehler, lispeln, können nicht zwischen "n" und "m" oder "sch" und "ch" unterscheiden. Was natürlich Auswirkungen aufs Lesen und Schreiben hat.

Ergotherapie empfehle ich häufig wegen fehlender Feinmotorik, wie etwa Problemen bei der Stifthaltung. Viele Eltern wollen sich darum aber nicht kümmern - wir können sie nicht zwingen. Und die, die wollen, müssen lange auf einen Platz warten, weil die Wartelisten überall voll sind.

Gibt es in Ihrer Klasse denn auch Kinder, die lernen wollen und können?
Ich habe ganz tolle Mädchen. Ich habe auch zwei Jungs, die gut sind, aber es sind hauptsächlich Mädchen, die vom Verhalten top sind, zu Hause üben, mitmachen und lernen wollen. Die sind nicht hochbegabt, aber schaffen es. Mit meiner vierten Klasse kann ich trotz allem einigermaßen arbeiten. Aber auch nur, weil ich sie seit der Einschulung begleite und viel dafür getan habe. Unsere Sozialpädagogin und ich haben bestimmt ein Jahr lang daran gearbeitet, dass jeder ausdrücken kann, wie er sich gerade fühlt, was ihn beschäftigt. Dass sie über Dinge reden können.

Das klingt nach viel innerer Unruhe.
Ja, vor allem nach der Pause gibt es einen enormen Gesprächsbedarf: Was ist auf dem Schulhof passiert? Wer hatte Streit? Mit wem? Warum? Aber auch sonst nehmen die Sorgen und Konflikte der Schüler sehr viel von unserer Zeit in Anspruch. Wir haben deswegen einen Briefkasten installiert. Kinder stecken Zettel hinein, auf denen steht, was sie für Sorgen haben oder auch was sie an der Schule mögen. Mindestens eine Stunde in der Woche besprechen wir allein, was sich in dem Briefkasten befindet.

Wir haben an der Schule auch eine Schulsozialarbeiterin, die uns im Unterricht begleitet und in den Pausen eine Kindersprechstunde anbietet. Die Kinder können dort ohne Anmeldung hingehen, wenn sie ein Problem jeglicher Art haben, mit Lehrern, Mitschülern, mit der Familie.

Was bekommen Sie vom Familienleben Ihrer Schüler mit?
Die meisten Eltern können kein Deutsch. Einige sind Analphabeten. Sie können den Kindern überhaupt nicht beim Lernen helfen. Manche Kinder kommen ohne Schulranzen in die Schule. Wahrscheinlich, weil sie sich keinen leisten können. Wir sind schon so weit, dass wir Geld von den Eltern einsammeln und dann selbst alle Arbeits- und Schreibhefte kaufen, weil die Kinder sonst keine mitbringen. Das Problem ist aber: Wenn ein Heft oder Buch einmal mit nach Hause geht, kommt es nicht zurück. Ist einfach verschollen.

Mindestens ein Kind sieht morgens so aus, als habe es kaum geschlafen. Ich weiß nicht, ob alle vor der Schule gefrühstückt haben. Ganz viele haben abgepackte Schokobrötchen dabei, Süßigkeiten, manchmal Burger. Wenn ich über ein gutes Frühstück spreche, fragen mich Eltern, was das denn mit meinem Gesundheitsquatsch soll.

Haben Sie oft Konflikte mit Eltern?
Das Problem ist vielmehr, dass wir nicht miteinander sprechen können. Wenn ich Eltern anrufe, bräuchten beide Seiten einen Dolmetscher. Manche Väter und Mütter können nicht einmal den Stundenplan lesen. Unser Unterricht beginnt um acht, aber einige Kinder kommen zwischen 8 und 8.45 Uhr, weil sie nicht genau wissen, wann die erste Stunde beginnt, oder verschlafen haben. Oder sie werden zwischendurch abgeholt, weil ein wichtiger Arzttermin sei. Ich feiere jeden Tag, an dem alle Kinder der Klasse da sind und ich weiß, heute haben alle das Gleiche gehört und mitbekommen.

Warum fehlen ständig Schüler? Sind sie krank?
Nicht unbedingt. Sie kommen oft auch nicht, weil sie keine Lust haben oder weil zu Hause etwas anderes wichtiger ist. Also rufe ich die Eltern an, die mich nicht verstehen. Neulich bekam ich bei einem Mädchen Tage später heraus: Die Mutter war bei der Arbeit und wusste gar nicht, dass ihre Tochter die Schule schwänzte. Sie blieb zu Hause, weil der große Bruder auch den ganzen Tag dort ist.

Wenn Sie fragen, wie das Wochenende war: Was hören Sie dann?
Die Kinder kommen nicht raus aus ihrem Viertel. Es gibt zwei, drei Spielplätze, einen Bolzplatz, wo sie unterwegs sind. Und sonst sitzen sie vor dem Smartphone, Tablet oder Fernseher. Mir hat letzte Woche ein Erstklässler gesagt: "Wann ist die Schule aus? Wann holt Mama mich ab? Da kann ich nach Hause, zocken." Ich schaue manchmal in ziemlich unglückliche Gesichter. Oder sehe Gesichter von einem Tag auf den anderen nicht mehr.

Warum verschwinden Kinder?
Wer kann, zieht hier aus dem Viertel weg. Im besten Fall, weil eine achtköpfige Familie eine Wohnung mit mehr als zwei Zimmern gefunden hat. Oder aber eine Familie hat Probleme mit dem Jugendamt, weil sie zum Beispiel gemeldet wurde. Dann muss die Familie nur das Bundesland wechseln, denn die Jugendämter tauschen sich über die Bundeslandgrenze nicht miteinander aus. Aus diesem Grund verschwand erst neulich ein Kind aus unserer Schule. Wir haben keine Ahnung, wo es jetzt ist.

Lehrer berichten von zunehmender Gewalt. In diesem Jahr gab es bundesweit Messerangriffe an Schulen. Bei Ihnen auch?
Es passiert an unserer Schule, dass Kinder ein Messer dabeihaben. Bei einem Fall war es so: Die Kinder sind unbegleitet aus Syrien geflüchtet, waren in einem griechischen Lager und wurden dann ein halbes Jahr lang vom Jugendamt versorgt. Schließlich kam die Mutter mit einem weiteren Kind nach. Ich gehe davon aus, dass die ganze Familie schwer traumatisiert ist. Und wenn die Mutter ihren Kindern sagte, sie müssen sich auf dem Schulhof verteidigen, wenn es Probleme gibt, kann ich das mit ihrem Hintergrund sogar verstehen. Aber das geht natürlich nicht!

Vielen Lehrkräften wird es zu viel. Allein in Berlin haben im vergangenen Jahr fast 1000 gekündigt.
Ich habe tolle Kollegen, sonst würde ich hier nicht bleiben wollen. Und ich habe das Gefühl, manchmal wirklich etwas im Leben eines Kindes bewirken zu können. Ich war vorher an einer anderen Schule, wo an einem Elternabend diskutiert wurde, ob man einen rosa-farbigen oder grünen Umschlag nimmt. Das ist doch so egal!

Ich habe eine Schülerin, die ihren Vater verloren hat. Sie war verstört, ihre Mutter auch. Jetzt haben sich beide berappelt. Ihre Mutter macht vormittags einen Deutschkurs, für das Mädchen haben wir ein Stipendium erwirkt. Sie wird Nachhilfe bekommen, einen Laptop zum Lernen - und sie wird über zwei Jahre lang finanziell unterstützt. So was ist sehr schön.

Was wünschen Sie Ihren Schülern mehr als gute Noten?
Mehr echte Zuwendung. Viele Kinder halten sich an keine Regeln, weil ihnen Zuwendung fehlt. Es wird zu Hause nicht miteinander gesprochen. Sie werden nicht gefragt: Was war heute schön an deinem Tag? Was steht morgen an? Wie fühlst du dich? Neulich rief eine Kollegin bei Eltern an, weil ihr Kind eine kleine Platzwunde vom Spielen in der Pause hatte. Die Mutter fragte nicht: "Wie geht's meinem Kind?" Sie wollte nur wissen, ob eine sichtbare Narbe bleiben wird.


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