Von
Amin Al Magrebi
Volontär an der Axel Springer Academy
Stand: 09.10.2025 Lesedauer: 6 Minuten
Quelle: Maud Koffler
WELT: Frau Bergeaud-Blackler, wie kamen Sie zum Thema Islamismus?
Florence Bergeaud-Blackler: Als ich Anthropologie-Studentin Mitte der 1990er-Jahre war, habe ich mich zunächst intensiv mit der Muslimbruderschaft in Frankreich auseinandergesetzt. Anschließend befasste ich mich mit Halal-Märkten und ihrer spektakulären Expansion in nur 40 Jahren, denn 1970 existierten sie noch gar nicht. Ich beobachtete, wie "halal" weit mehr als nur ein technisches Kriterium wurde. Es wurde zu einem Vehikel für soziale Organisation, Identitäten und nach und nach auch für politische Ambitionen.
Bei der Untersuchung dieses inzwischen globalisierten Marktes mit einem Wert von mehreren Billionen Dollar sah ich ein Netzwerk aus Akteuren, rechtlichen Rahmenbedingungen und moralischen Narrativen entstehen, das weit über den Lebensmittelkonsum hinausging und auch Fragen der Staatsführung, der Rechte und des Stellenwerts der Religion im öffentlichen Raum berührte. Es war diese Reise, die mich dazu brachte, den Islamismus und insbesondere das, was ich als "Frérismus" bezeichne, zu analysieren.
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WELT: Ihr Begriff "Frérismus" leitet sich von der französischen Bezeichnung für die Muslimbruderschaft ab und beschreibt dieses leise, aber tief greifende System der Einflussnahme. Wie verbreitet ist das Phänomen?
Bergeaud-Blackler: Ich verwende den Begriff "Frérismus", um das ideologische Ökosystem zu bezeichnen, das von der Muslimbruderschaft inspiriert ist - unabhängig von einer formalen organischen Verbindung zur Bruderschaft. Dieses Ökosystem umfasst Texte, Normen, Interpretationsrahmen und Umsetzungsmethoden. Sein Ausmaß lässt sich nicht allein an der Zahl der Anhänger messen, sondern an seiner Framing-Kapazität: die Schaffung "Scharia-kompatibler" Referenzrahmen für Schulen, Familien, die Wirtschaft, Kulturvermittlung, Antidiskriminierungsklagen und so weiter. Die Halal-Märkte sind ein Beispiel dafür.
Diese Kapazität zur Rahmensetzung ist diffus, aber widerstandsfähig. Sie wird über Vereine, Nichtregierungsorganisationen, digitale Plattformen, Führungskräftetrainings und moralische Labels eingesetzt. Sie wirkt sich auf verschiedene Segmente aus: Jugendliche, Studentenkreise, "ethisches" Unternehmertum und Community-Medien. Wobei die Intensität natürlich je nach Land variiert.
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WELT: Sie nennen die Halal-Märkte als Beispiel. Aber viele Muslime würden entgegnen, die Halal-Ernährung sei vergleichbar mit der koscheren Ernährung im Judentum und keine politische Frage. Wie unterscheiden Sie zwischen einer normalen religiösen Praxis und Islamismus?
Bergeaud-Blackler: Dass ein Gläubiger halal essen möchte, genauso wie ein Jude koscher essen möchte, ist in der Tat eine völlig legitime religiöse Praxis. Was ich jedoch beobachtet habe, war, dass diese Praxis ab den 1980er-Jahren von der Muslimbruderschaft zu einem politischen Instrument zur Verhaltenssteuerung umfunktioniert wurde. Halal war nicht mehr nur ein kulinarischer Brauch, sondern ein Instrument der sozialen Normalisierung, der Gemeinschaftsorganisation sowie ein globalisierter wirtschaftlicher Hebel, der heute einen Wert von mehreren Milliarden Dollar hat. Der Vergleich mit Koscher hinkt, da das Judentum nie versucht hat, eine alternative Gesellschaft auf der Grundlage von Koscher aufzubauen.
Das von den Netzwerken der Bruderschaft geförderte Halal-Kriterium zielt hingegen ausdrücklich darauf ab, eine "Gegengesellschaft" mit eigenen Wirtschaftskreisläufen und eigenen Normen zu schaffen. Diese Instrumentalisierung ist für mich als Forscherin interessant, da sie über den Bereich des Glaubens hinausgeht und in den Bereich eines politischen Projekts eintritt. Der Halal-Markt wurde tatsächlich vor 40 Jahren erfunden. Er war das Ergebnis einer Begegnung zwischen islamischem Neofundamentalismus und Neoliberalismus. Das ist die These, die ich seit Langem vertrete und in meinem demnächst erscheinenden Buch "Le Djihad par le marché" (Der Dschihad durch den Markt) behandele.
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WELT: Sie kritisieren auch, die akademische Islamforschung sei zu stark auf Islamophobie fokussiert - wollen Sie die dabei die Existenz von antimuslimischem Rassismus bestreiten?
Bergeaud-Blackler: Es gibt reale Manifestationen von Rassismus in Europa. Sie müssen benannt, dokumentiert und bestraft werden. Meine Vorbehalte betreffen den Begriff "Islamophobie", wenn er drei Ebenen miteinander vermischt: Erstens die Religionskritik, die durch die Meinungsfreiheit geschützt ist. Zweitens die Feindseligkeit gegenüber Menschen, die Rassismus ist und bestraft werden muss. Und drittens die Debatte über ein politisches Projekt - den Islamismus. Indem wir diese Bereiche vermischen, verwischen wir die Grenzen des Gesetzes, behindern die Forschung und bieten einen rhetorischen Schutzschild für die Einschüchterungsstrategien der Islamisten.
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WELT: Auf welche Strukturen trifft der "Frérismus" in Deutschland - das im Gegensatz zu Frankreich ja Kirche und Staat nicht strikt trennt?
Bergeaud-Blackler: Deutschland ist geprägt von Föderalismus und einer dichten Vereinslandschaft mit anerkannten religiösen Vertretern sowie öffentlichen oder halböffentlichen Finanzierungsmechanismen. Wenn diese nicht streng reguliert sind, können sie von Akteuren mit normativen Agenden vereinnahmt werden. Auf den ersten Blick unterscheidet sich dieses Modell deutlich vom französischen säkularen Modell. In beiden Fällen gibt es jedoch Kanäle für einen "sanften" Frérismus: nicht-formale Bildung, Seelsorge, kulturelle Strukturen und Community-Medien. All diese neigen dazu, Bevölkerungsgruppen ausländischer Herkunft aus der Gesellschaft abzusondern.
Die muslimische Gemeinschaft in Deutschland ist einerseits geprägt vom türkischen Islamnationalismus, der oft strukturiert und elitär ist. Andererseits ist sie geprägt von der jüngsten Zuwanderung von Menschen syrischer und afghanischer Herkunft, deren Werte sich stark von denen Europas unterscheiden. Gewisse islamistische Eliten versuchen, Teile dieser Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren, um sie für ihr übergeordnetes ideologisches Projekt zu gewinnen - dieses Projekt ist die Islamisierung der deutschen Gesellschaft.
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WELT: Was sind die wirksamsten Mittel gegen diese ideologische Durchdringung?
Bergeaud-Blackler: Es wird Sie nicht überraschen, dass meine Antwort als Wissenschaftlerin "Wissen" lautet. Lehrer, Sozialarbeiter, Richter und Journalisten müssen in die Lage versetzt werden, die Unterwanderungsstrategien der Muslimbruderschaft zu erkennen, die zwar gewaltfrei, aber psychologisch druckausübend sind. Es ist auch notwendig, den Pluralismus innerhalb des Islam zu unterstützen und die Gewissensfreiheit zu garantieren, einschließlich des Rechts auf Kritik, Distanzierung oder Abkehr vom Glauben.
Wir müssen den Menschen ermöglichen, sich dem Einfluss und der Kontrolle zu entziehen, die die Bruderschaft über einen Teil der muslimischen Bevölkerung ausübt. Es ist nicht normal, dass sich Europäer aus christlichen oder jüdischen Familien, ermutigt durch humanistische Werte, von der Religion ihrer Eltern emanzipieren konnten, während Menschen muslimischer Herkunft der Kontrolle der Islamisten ausgeliefert bleiben. Schließlich ist es unerlässlich, das Tragen des Schleiers für Minderjährige unter 18 Jahren zu verbieten.
WELT: Ein staatliches Kopftuch-Verbot birgt aber auch die Gefahr, das Bild einer feindseligen Gesellschaft zu festigen, die muslimischen Teenagern Entscheidungs-Freiheit nimmt - genau das also, was die Muslimbrüder propagieren.
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Bergeaud-Blackler: Es geht um den Schutz von Minderjährigen. Ein Mädchen entscheidet sich nicht frei dafür, hinter einem Schleier zu verschwinden. Das ist nicht natürlich. Sie wird von ihrem familiären Umfeld und dem Gruppendruck beeinflusst. Wenn sie ihn später ablegen möchte, kann der soziale Druck beträchtlich sein, sogar unerträglich. Der Staat hat daher die Pflicht, einen Freiraum zu schaffen, indem er eine klare Grenze setzt: kein Schleier vor dem 18. Lebensjahr, dem Alter der Volljährigkeit. Warum 18? Weil das Tragen des Schleiers ein gesellschaftspolitischer und religiöser Akt ist.
Dies ist keine Maßnahme gegen Muslime - denn das Tragen eines Hidschabs ist nicht gleichbedeutend mit dem Muslim sein - sondern eine Maßnahme zum Schutz der bewussten Entscheidungsfreiheit. Was die Vorstellung einer feindseligen Gesellschaft angeht, so garantiert der Staat durch die Festlegung dieses Rahmens gerade, dass alle Mädchen im Teenageralter - ob Musliminnen oder nicht - in einem Kontext der Freiheit zu Frauen heranwachsen können.