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Stand: 27.09.2025, 06:51 Uhr Lesedauer: 6 Minuten
Quelle: TikTok/Screenshot WELT am Sonntag; Montage: Infografik WELT
Abdifatah Ibrahim A. hat die Kamera auf sich selbst gerichtet. Er trägt eine Uniform mit Flecktarnmuster, hat ein Gewehr geschultert und marschiert durch eine karge Landschaft. Hinter ihm folgt eine Karawane von bewaffneten Soldaten. A. legt die Hand aufs Herz und salutiert.
Es ist Juni 2023, als A. das Video auf seinem TikTok-Profil veröffentlicht. Im Norden von Somalia tobt zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Monaten ein Kampf. Es geht um Einfluss im Grenzgebiet zwischen dem - von keinem Staat anerkannten - de-facto-Regime Somaliland und der Bundesrepublik Somalia sowie hier ansässigen mächtigen Clans.
Quelle: TikTok/Screenshot WELT am Sonntag
A., das legen zahlreiche Videos aus der Zeit nahe, kämpft auf der Seite Somalilands. Das Brisante: Eigentlich hat der Mann aus Ostafrika seinen Lebensmittelpunkt mutmaßlich längst in Deutschland. Bei Facebook gibt er die Gemeinde Dreieich bei Frankfurt als Heimatort an, mehrere Videos, die er in den sozialen Medien verbreitet, zeigen ihn in Deutschland.
Laut Angaben eines Informanten könnte er hier vor Jahren einen Schutzstatus erhalten haben. In Kommentaren bei TikTok preisen ihn Bekannte dafür, aus Frankfurt in den Krieg nach Somaliland gereist zu sein.
Die Aufnahmen werfen ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das die deutschen Behörden umtreibt: Es gibt immer wieder Fälle von Menschen, die angeben, vor Bürgerkrieg, Konflikten und politischer Verfolgung in ihrer Heimat geflohen zu sein, in Wahrheit aber regelmäßig nach Hause reisen. Eigentlich verlieren sie dadurch laut Asylgesetz ihren Anspruch auf Schutz. Doch häufig passieren die Reisen unter dem Radar der zuständigen Stellen.
Für deutsche Behörden ist der Umgang mit Menschen wie Abdifatah Ibrahim A. ein Dilemma. Obwohl der Somalier seine Heimatreisen öffentlich auf TikTok inszeniert und sich damit vor Zehntausenden Zuschauern selbst belastet, bleiben die Sicherheitsbehörden weitgehend untätig. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) darf aus Datenschutzgründen nicht eigenständig in sozialen Netzwerken nach Hinweisen suchen - selbst dann nicht, wenn die Beweise frei verfügbar sind. Erst wenn externe Hinweise eingehen, kann die Sicherheitsabteilung des Amtes aktiv werden.
Bis 2022 war das BAMF zumindest verpflichtet, alle positiven Asylentscheidungen routinemäßig nach drei Jahren erneut zu überprüfen. Doch auch diese sogenannte Regelüberprüfung hat die Ampel-Regierung abgeschafft. Seitdem wird nur noch "anlassbezogen" geprüft, etwa wenn Hinweise von Ausländer- oder Sicherheitsbehörden vorliegen.
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Nach Angaben des BAMF wurden von Januar bis August 2025 rund 16.000 Widerrufsprüfverfahren eingeleitet, insgesamt wurden in diesem Zeitraum fast 34.000 Entscheidungen gefällt. Syrische, afghanische und irakische Staatsangehörige machten dabei den größten Anteil aus. Für somalische Schutzberechtigte weist die Statistik 385 neu eingeleitete Prüfungen und 920 abgeschlossene Verfahren aus. In 27 Fällen kam es zum Widerruf oder zur Rücknahme eines Schutzstatus, in der überwältigenden Mehrheit - 851 Verfahren - blieb der Status bestehen.
Eine Aufschlüsselung der Widerrufsverfahren nach Anlass kann das BAMF nicht liefern. Die Behörde betont, dass die individuellen Lebensgeschichten der Schutzsuchenden zu komplex seien, um sie in standardisierte Kategorien zu fassen. Entsprechend werden weder die ursprünglichen Fluchtgründe noch die Ursachen für eine spätere Überprüfung statistisch erfasst.
Der Fall Abdifatah Ibrahim A. ist ein extremes Beispiel. Viel deutet darauf hin, dass der junge Mann selbst an bewaffneten Konflikten teilgenommen hat. Im Januar 2023 war der Kampf um die Stadt Las Anod ausgebrochen. Im Februar dokumentierte A. bei Facebook einen Aufenthalt am Flughafen der somaliländischen Hauptstadt Hargeisa. Im März postete A. erstmals ein Video von Soldaten in Formation, im April veröffentlichte er Aufnahmen, die ihn selbst mit Waffe zeigen - mitsamt Verweis auf den Ort Las Anod.
Im Februar 2023 hatte die lokale SSC-Khaatumo-Miliz nach einem Aufstand gegen die Herrschaft Somalilands die Stadt übernommen. Die Armee Somalilands belagerte Las Anod daraufhin über Monate hinweg und setzte Artillerie ein. Laut Beobachtern wurden dabei Hunderte Zivilisten getötet, Zehntausende flohen; Menschenrechtsorganisationen sprachen von möglichen Kriegsverbrechen. War Abdifatah Ibrahim A. womöglich beteiligt? Das ist bisweilen ungeklärt. Eine Anfrage ließ der Somalier unbeantwortet.
Quelle: TikTok/Screenshot WELT am Sonntag
Andere heizen die Gewalt in Somalia vor allem mit Worten an. Die Sender ARD und Deutsche Welle berichteten zuletzt über mehrere Influencer, die in Deutschland Asyl beantragt hatten, während sie in Videos dazu aufriefen, Milizen zu gründen und verfeindete Clans in Somalia zu töten. Einer der Männer, der auf der Seite der autonomen Region Puntland kämpfte, inszenierte sich bei Reisen in seine Heimat als militärischer Führer.
WELT AM SONNTAG konnte eine weitere Influencerin identifizieren, die aus Deutschland im Netz Kriegspropaganda und Hetze verbreitet - und ausweislich zahlreicher Social-Media-Beiträge immer wieder nach Somalia reist. Im Internet nennt sich Naimo Abdi A. "Xidigta Jarmalka", was übersetzt "Stern Deutschlands" bedeutet. Nach eigenen Angaben lebt sie in Mainz, Aufnahmen legen nahe, dass sie zeitweise in einem Amazon-Lager gearbeitet hat. Im Kontrast präsentiert sich "Xidigta Jarmalka" bei TikTok auf Heimatreisen wie ein bejubelter Superstar. Ihre Videos im Stile einer Mode-Influencerin schauen mehr als 200.000 Follower.
In einigen Aufnahmen zeigt sich die Frau bei politischen Veranstaltungen nationalistisch-somaliländischer Parteien. Doch es bleibt nicht bei einer friedlichen politischen Betätigung. Es gibt mehrere Videos, in denen "Xidigta Jarmalka" zu Gewalt und Ausgrenzung aufruft. Darin bezeichnet sie Homosexuelle als "Schande" und propagiert die Enthauptung von Mitgliedern eines verfeindeten Clans, der mit den somaliländischen Kräften um Los Anod rang. "Geht bitte in die Nachbarschaft, fragt die Leute nach deren Stammeszugehörigkeit, sobald die ihren Stamm nennen und nicht zu uns gehören, schlachtet sie ab", krakeelt die Frau.
Markus Höhne ist Ethnologe und forscht seit über 20 Jahren zu politischen Dynamiken in Somalia. Höhne hält die Fälle für extreme Beispiele eines Phänomens, das man "Long Distance Nationalism" nennt.
"Wir sehen Menschen, die vielleicht irgendwo in Deutschland leben, aber mental komplett in Somalia situiert sind", erklärt Höhne. In den meisten Fällen beschränke sich ihr Nationalismus auf Geldrücksendungen an die Familie oder das nähere Umfeld. "Doch wir wissen von Einzelfällen, in denen Menschen in Kriegsgebiete reisen und dort zeitweise an Kampfhandlungen teilnehmen. 2023 habe ich im Konflikt um Las Anod zahlreiche Beispiele gesehen, wie Diaspora-Angehörige aus Europa nach Somalia zurückkehren, um mitzukämpfen oder Bilder auf Social Media zu produzieren, die zu kriegerischen Handlungen anheizen." Höhne findet: "Wer in Deutschland einen Schutzstatus hat, weil er angibt, vor dem Krieg zu fliehen, kann nicht in den Ferien ins Kriegsgebiet reisen. Ethisch passt das nicht, und es ist mit dem Schutzanspruch schwer vereinbar."
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WELT AM SONNTAG hat - unter Zusicherung von Anonymität - mit dem Leiter einer Ausländerbehörde über die Fälle gesprochen. Er sagt, Somalia gilt für die Behörden als eines der unsichersten Herkunftsländer. "Antragssteller bekommen seit Jahren fast ausnahmslos einen Flüchtlingsschutz." Abschiebungen seien rechtlich und praktisch fast unmöglich. Ein Problem seien ungültige Papiere. Deutschland erkenne somalische Dokumente, die nach dem Staatszerfall 1991 ausgestellt wurden, nicht an. Somalia wiederum verlange bei Abschiebungen eine schriftliche Erklärung der Betroffenen, dass sie freiwillig ausreisen.
In den Fällen Abdifatah Ibrahim A. und "Xidigta Jarmalka" teilt ein BAMF-Sprecher mit, nichts zu Identität und Asylstatus der Personen sagen zu können. Sollte sich allerdings herausstellen, dass die Somalier tatsächlich wiederholt in die Heimat gereist oder sogar an Kampfhandlungen teilgenommen haben, werde die Behörde ein Widerrufsverfahren des gewährten Schutzstatus einleiten.